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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
Richard Goldschmidt von 3

el Entscheidung der Frage, ob Laien- oder Gelehrtenspruch vor¬
zuziehen sei, ist es gewiß sehr hoch anzuschlagen, daß der Laie
dem Fachmann in der Veweiswürdigung ebenbürtig ist; außer¬
dem füllt aber zu Gunsten des Laiensprnchs ins Gewicht, daß
in einer Zeit der Parlamente und der Selbstverwaltung eine
fachmännisch betriebne Rechtspflege nicht wie eine unsern angebornen Rechts-
anschauungen entsprechende Einrichtung, sondern wie eine sich ewig forterbende
Krankheit empfunden werden muß. Wenn nicht schon länger, fo doch spätestens
seit der großen französischen Revolution herrscht die Ansicht, daß auch das Recht
nicht Selbstzweck, sondern der Menschen wegen da sei. Daraus ergiebt sich,
daß die Strafen nicht zu Ehren einer ausgeklügelten, folgerichtigen Wissenschaft
verhängt werden dürfen, sondern dein Bewußtheit? der einfach denkenden Menschen
entsprechen müssen, daß das Strafrecht keine Geheimwissenschaft sein darf, sondern
in allen seinen Folgerungen dem allgemeinen Verständnis offen stehen muß.
Schon Savigny sagt: "Das Recht hat kein Dasein für sich, sein Wesen ist viel¬
mehr das Leben der Menschen selbst, von einer besondern Seite angesehen."
Das ist ein einleuchtender Gedanke, der es uns erklärlich macht, daß es einer¬
seits mit der Rechtswissenschaft etwas andres ist, als mit den andern Wissen¬
schaften, daß sie mitten im Leben des Volkes stehen muß, wenn sie kein bloßes
Scheinleben führen soll, das sich in Einseitigkeit mühsam hinschleppt und am
Buchstaben klebt, und daß es andrerseits ein unveräußerliches Recht des Volkes
ist, in seinem Rechtsleben urteilsfähig zu bleiben, damit ihm nicht die Rechts¬
sprüche wie ein unter einem undurchdringlichen Dunkel von Gründen ver¬
stecktes Orakel erscheinen. Von den Zeiten des großen Friedrich an bis auf
den heutigen Tag hat man sich bemüht, die Gesetze in einer allgemein ver¬
ständlichen Sprache abzufassen. Es ist aber immer ein vergebliches Bemühen
gewesen und mußte auch vergeblich bleiben, denn die Rechtssprache kann nicht
volkstümlich werden, wenn es nicht das Recht selbst ist. Das Strafrecht ins¬
besondre verliert, soweit es nicht auf Rechtsüberzeugung des Volks beruht,




Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg
Richard Goldschmidt von 3

el Entscheidung der Frage, ob Laien- oder Gelehrtenspruch vor¬
zuziehen sei, ist es gewiß sehr hoch anzuschlagen, daß der Laie
dem Fachmann in der Veweiswürdigung ebenbürtig ist; außer¬
dem füllt aber zu Gunsten des Laiensprnchs ins Gewicht, daß
in einer Zeit der Parlamente und der Selbstverwaltung eine
fachmännisch betriebne Rechtspflege nicht wie eine unsern angebornen Rechts-
anschauungen entsprechende Einrichtung, sondern wie eine sich ewig forterbende
Krankheit empfunden werden muß. Wenn nicht schon länger, fo doch spätestens
seit der großen französischen Revolution herrscht die Ansicht, daß auch das Recht
nicht Selbstzweck, sondern der Menschen wegen da sei. Daraus ergiebt sich,
daß die Strafen nicht zu Ehren einer ausgeklügelten, folgerichtigen Wissenschaft
verhängt werden dürfen, sondern dein Bewußtheit? der einfach denkenden Menschen
entsprechen müssen, daß das Strafrecht keine Geheimwissenschaft sein darf, sondern
in allen seinen Folgerungen dem allgemeinen Verständnis offen stehen muß.
Schon Savigny sagt: „Das Recht hat kein Dasein für sich, sein Wesen ist viel¬
mehr das Leben der Menschen selbst, von einer besondern Seite angesehen."
Das ist ein einleuchtender Gedanke, der es uns erklärlich macht, daß es einer¬
seits mit der Rechtswissenschaft etwas andres ist, als mit den andern Wissen¬
schaften, daß sie mitten im Leben des Volkes stehen muß, wenn sie kein bloßes
Scheinleben führen soll, das sich in Einseitigkeit mühsam hinschleppt und am
Buchstaben klebt, und daß es andrerseits ein unveräußerliches Recht des Volkes
ist, in seinem Rechtsleben urteilsfähig zu bleiben, damit ihm nicht die Rechts¬
sprüche wie ein unter einem undurchdringlichen Dunkel von Gründen ver¬
stecktes Orakel erscheinen. Von den Zeiten des großen Friedrich an bis auf
den heutigen Tag hat man sich bemüht, die Gesetze in einer allgemein ver¬
ständlichen Sprache abzufassen. Es ist aber immer ein vergebliches Bemühen
gewesen und mußte auch vergeblich bleiben, denn die Rechtssprache kann nicht
volkstümlich werden, wenn es nicht das Recht selbst ist. Das Strafrecht ins¬
besondre verliert, soweit es nicht auf Rechtsüberzeugung des Volks beruht,


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[0127] [Abbildung] Dunkler Drang nach einem guten Rechtsweg Richard Goldschmidt von 3 el Entscheidung der Frage, ob Laien- oder Gelehrtenspruch vor¬ zuziehen sei, ist es gewiß sehr hoch anzuschlagen, daß der Laie dem Fachmann in der Veweiswürdigung ebenbürtig ist; außer¬ dem füllt aber zu Gunsten des Laiensprnchs ins Gewicht, daß in einer Zeit der Parlamente und der Selbstverwaltung eine fachmännisch betriebne Rechtspflege nicht wie eine unsern angebornen Rechts- anschauungen entsprechende Einrichtung, sondern wie eine sich ewig forterbende Krankheit empfunden werden muß. Wenn nicht schon länger, fo doch spätestens seit der großen französischen Revolution herrscht die Ansicht, daß auch das Recht nicht Selbstzweck, sondern der Menschen wegen da sei. Daraus ergiebt sich, daß die Strafen nicht zu Ehren einer ausgeklügelten, folgerichtigen Wissenschaft verhängt werden dürfen, sondern dein Bewußtheit? der einfach denkenden Menschen entsprechen müssen, daß das Strafrecht keine Geheimwissenschaft sein darf, sondern in allen seinen Folgerungen dem allgemeinen Verständnis offen stehen muß. Schon Savigny sagt: „Das Recht hat kein Dasein für sich, sein Wesen ist viel¬ mehr das Leben der Menschen selbst, von einer besondern Seite angesehen." Das ist ein einleuchtender Gedanke, der es uns erklärlich macht, daß es einer¬ seits mit der Rechtswissenschaft etwas andres ist, als mit den andern Wissen¬ schaften, daß sie mitten im Leben des Volkes stehen muß, wenn sie kein bloßes Scheinleben führen soll, das sich in Einseitigkeit mühsam hinschleppt und am Buchstaben klebt, und daß es andrerseits ein unveräußerliches Recht des Volkes ist, in seinem Rechtsleben urteilsfähig zu bleiben, damit ihm nicht die Rechts¬ sprüche wie ein unter einem undurchdringlichen Dunkel von Gründen ver¬ stecktes Orakel erscheinen. Von den Zeiten des großen Friedrich an bis auf den heutigen Tag hat man sich bemüht, die Gesetze in einer allgemein ver¬ ständlichen Sprache abzufassen. Es ist aber immer ein vergebliches Bemühen gewesen und mußte auch vergeblich bleiben, denn die Rechtssprache kann nicht volkstümlich werden, wenn es nicht das Recht selbst ist. Das Strafrecht ins¬ besondre verliert, soweit es nicht auf Rechtsüberzeugung des Volks beruht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/127>, abgerufen am 01.05.2024.