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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Zur Kritik des Marxismus
v Lari Zentsch on

in bekehrter Sozialdemokrat, der gegen den Marxismus schreibt,*)
und ein königlich preußischer Universitätsprofessor, der sich zum
Marxismus bekennt,**) sind an sich so merkwürdige Erscheinungen,
daß eine politische Wochenschrift nicht gut an ihnen vorübergehen
kann, und da ich gleichzeitig mit den Schriften dieser beiden auch
die sehr gründliche und mit mühsamem Fleiß gearbeitete Kritik des Marxismus
von Wenckstern***) gelesen habe, so will ich diese Gelegenheit dazu benutzen,
meine schon mehreremal ausgesprochne Ansicht über die Bedeutung des an¬
erkannt größten Klassikers des Sozialismus noch einmal zu wiederholen. Solche
Wiederholungen sind notwendig, weil eine unbefangne und sachliche Behandlung
von Gegenständen eines hestigen Parteistreits den Parteien unbequem ist, diese
daher in ihren Organen gern falsch darüber berichten, und solche falsche Be¬
richte sich im Gedächtnis der Leser festsetzen, wenn nicht von Zeit zu Zeit
dagegen Einspruch erhoben wird. Ich schicke diesmal der Darstellung ein paar,
den Lesern ebenfalls längst bekannte, Leitsätze meiner allgemeinen Weltansicht
voraus, die für sich allein schon darthun, daß ich unmöglich Sozialist und
am allerwenigsten Marxist sein kann.

1. iMorMinus! Das Geheimnis des Daseins ist nicht zu ergründen.
Der menschliche Verstand ist ein Laternenlicht in der Nacht, das uns die nächste
Umgebung so weit aufhellt, daß wir sehen, wohin wir bei jedem Schritt vor¬
wärts den Fuß setzen können, aber niemals die ganze Wirklichkeit durchleuchtet.
Aller Fortschritt der Wissenschaft bereichert nur unsre Erkenntnis dessen, was
ist, enthüllt uns aber weder das Warum noch das Woher und Wohin, noch
deckt es uns den innersten Zusammenhang der Dinge ans. Erdhütte sich uns
ein Zusammenhang, so tritt jedesmal gleichzeitig die Frage nach einem neuen,





Die marxistische Sozialdemokratie von Max Lorenz, 9. Band der Bibliothek
für Sozialwissenschaft, Leipzig, Georg H, Wigand, 1800.
"">) Sozialismus und soziale Bewegung im neunzehnten Jahrhundert. Bon
Werner Sombart, Professor an der Universität Breslau, Jena, Gustav Fischer, 18W,
Marx, Von Dr. Adolf von Wenckstern, Leipzig, Duncker und Humblot, 18W,
Grenzboten I 18S7 ni


Zur Kritik des Marxismus
v Lari Zentsch on

in bekehrter Sozialdemokrat, der gegen den Marxismus schreibt,*)
und ein königlich preußischer Universitätsprofessor, der sich zum
Marxismus bekennt,**) sind an sich so merkwürdige Erscheinungen,
daß eine politische Wochenschrift nicht gut an ihnen vorübergehen
kann, und da ich gleichzeitig mit den Schriften dieser beiden auch
die sehr gründliche und mit mühsamem Fleiß gearbeitete Kritik des Marxismus
von Wenckstern***) gelesen habe, so will ich diese Gelegenheit dazu benutzen,
meine schon mehreremal ausgesprochne Ansicht über die Bedeutung des an¬
erkannt größten Klassikers des Sozialismus noch einmal zu wiederholen. Solche
Wiederholungen sind notwendig, weil eine unbefangne und sachliche Behandlung
von Gegenständen eines hestigen Parteistreits den Parteien unbequem ist, diese
daher in ihren Organen gern falsch darüber berichten, und solche falsche Be¬
richte sich im Gedächtnis der Leser festsetzen, wenn nicht von Zeit zu Zeit
dagegen Einspruch erhoben wird. Ich schicke diesmal der Darstellung ein paar,
den Lesern ebenfalls längst bekannte, Leitsätze meiner allgemeinen Weltansicht
voraus, die für sich allein schon darthun, daß ich unmöglich Sozialist und
am allerwenigsten Marxist sein kann.

1. iMorMinus! Das Geheimnis des Daseins ist nicht zu ergründen.
Der menschliche Verstand ist ein Laternenlicht in der Nacht, das uns die nächste
Umgebung so weit aufhellt, daß wir sehen, wohin wir bei jedem Schritt vor¬
wärts den Fuß setzen können, aber niemals die ganze Wirklichkeit durchleuchtet.
Aller Fortschritt der Wissenschaft bereichert nur unsre Erkenntnis dessen, was
ist, enthüllt uns aber weder das Warum noch das Woher und Wohin, noch
deckt es uns den innersten Zusammenhang der Dinge ans. Erdhütte sich uns
ein Zusammenhang, so tritt jedesmal gleichzeitig die Frage nach einem neuen,





Die marxistische Sozialdemokratie von Max Lorenz, 9. Band der Bibliothek
für Sozialwissenschaft, Leipzig, Georg H, Wigand, 1800.
"">) Sozialismus und soziale Bewegung im neunzehnten Jahrhundert. Bon
Werner Sombart, Professor an der Universität Breslau, Jena, Gustav Fischer, 18W,
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[0289] [Abbildung] Zur Kritik des Marxismus v Lari Zentsch on in bekehrter Sozialdemokrat, der gegen den Marxismus schreibt,*) und ein königlich preußischer Universitätsprofessor, der sich zum Marxismus bekennt,**) sind an sich so merkwürdige Erscheinungen, daß eine politische Wochenschrift nicht gut an ihnen vorübergehen kann, und da ich gleichzeitig mit den Schriften dieser beiden auch die sehr gründliche und mit mühsamem Fleiß gearbeitete Kritik des Marxismus von Wenckstern***) gelesen habe, so will ich diese Gelegenheit dazu benutzen, meine schon mehreremal ausgesprochne Ansicht über die Bedeutung des an¬ erkannt größten Klassikers des Sozialismus noch einmal zu wiederholen. Solche Wiederholungen sind notwendig, weil eine unbefangne und sachliche Behandlung von Gegenständen eines hestigen Parteistreits den Parteien unbequem ist, diese daher in ihren Organen gern falsch darüber berichten, und solche falsche Be¬ richte sich im Gedächtnis der Leser festsetzen, wenn nicht von Zeit zu Zeit dagegen Einspruch erhoben wird. Ich schicke diesmal der Darstellung ein paar, den Lesern ebenfalls längst bekannte, Leitsätze meiner allgemeinen Weltansicht voraus, die für sich allein schon darthun, daß ich unmöglich Sozialist und am allerwenigsten Marxist sein kann. 1. iMorMinus! Das Geheimnis des Daseins ist nicht zu ergründen. Der menschliche Verstand ist ein Laternenlicht in der Nacht, das uns die nächste Umgebung so weit aufhellt, daß wir sehen, wohin wir bei jedem Schritt vor¬ wärts den Fuß setzen können, aber niemals die ganze Wirklichkeit durchleuchtet. Aller Fortschritt der Wissenschaft bereichert nur unsre Erkenntnis dessen, was ist, enthüllt uns aber weder das Warum noch das Woher und Wohin, noch deckt es uns den innersten Zusammenhang der Dinge ans. Erdhütte sich uns ein Zusammenhang, so tritt jedesmal gleichzeitig die Frage nach einem neuen, Die marxistische Sozialdemokratie von Max Lorenz, 9. Band der Bibliothek für Sozialwissenschaft, Leipzig, Georg H, Wigand, 1800. "">) Sozialismus und soziale Bewegung im neunzehnten Jahrhundert. Bon Werner Sombart, Professor an der Universität Breslau, Jena, Gustav Fischer, 18W, Marx, Von Dr. Adolf von Wenckstern, Leipzig, Duncker und Humblot, 18W, Grenzboten I 18S7 ni

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/289>, abgerufen am 01.05.2024.