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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Ein sozialpolitischer Rückblick

nicht eintreten; aber an seiner Stelle haben wir fortwährende kleine Zusammen¬
bruche, die von den Betroffnen darum nicht weniger schmerzlich empfunden
werden, weil es neben ihnen immer noch Unbetroffne giebt; und diese kleinen
Zusammenbruche sind eben die Symptome der schleichenden Krisis. Optimisten
wie Wenckstern nennen solche Zusammenbruche einen Gesnndungsprozeß. Nun
ja, jede Krankheit ist ein Gcsuudungsprozeß, aber an einem seiner Gesundungs¬
prozesse stirbt der Mensch zuletzt, und der wirtschaftliche Tod der Völker ist
nicht unerhört in der Geschichte. Marx hat nun diese "Gesundungsprozesse"
im Zusammenhange gesehen. Indem er deu Verlauf der kapitalistischen Ent¬
wicklung im großen und ganzen überblickte, unterlag er derselben Täuschung
wie der Beschauer eines Gebirges, das ihm als ein einziger Berg erscheint,
sich aber beim Wandern in unzählige Berge und Schluchten auflöst.

Daß die Maschine den Arbeiter totschlage, und daß die durch deu tech¬
nischen Fortschritt frei werdenden Arbeiter zu uicht mehr zu bewältigenden
Massen anschwellen würden, das war einer der Irrtümer, die dem Anblick der
englischen Zustände um die Mitte unsers Jahrhunderts unvermeidlich ent¬
springen mußten. Wenckstern hat ganz gut erklärt, wie es zugeht, daß die
durch den technischen Fortschritt freigewordnen Arbeiter bis jetzt durch den¬
selben technischen Fortschritt immer wieder untergebracht worden sind, aber er
schießt zum drittenmale über das Ziel hinaus, wenn er glauben machen will,
das gehe ganz glatt von statten, nud eine Arbeitslosenfrage gebe es gar nicht.
Solchen, Optimismus gegenüber verweise ich auf das in "Weder Kommunismus
noch Kapitalismus" S. 163 bis 171 Gesagte, das ich hier uicht noch einmal
wiederholen kann. In England nimmt mau die Arbeitslosenfrage keineswegs
leicht, wie die Schlußbemerkungen des Berichts des Arbeitsamtes von 1893
beweisen (vorjähriges 50. Heft, S. 505).

(Schluß folgt)




Lin sozialpolitischer Rückblick

le Neichstagswahlen von 1898 fangen an, die Gemüter zu erregen.
Namentlich im agrarischen und im freisinnigen Parteilager scheint
man sich zu einem Kampf aufs Messer zu rüsten; Kartelle werden
angebahnt, und Programme sind in Arbeit. Es wäre verfrüht,
im Augenblick Betrachtungen für die Zukunft anzustellen, wo jeder
Tag, jede Woche neue Schlaglichter auf die Ziele und auch auf die Aussichten
der bevorstehenden Kämpfe verspricht; aber angebracht ist vielleicht ein Ruck-


Ein sozialpolitischer Rückblick

nicht eintreten; aber an seiner Stelle haben wir fortwährende kleine Zusammen¬
bruche, die von den Betroffnen darum nicht weniger schmerzlich empfunden
werden, weil es neben ihnen immer noch Unbetroffne giebt; und diese kleinen
Zusammenbruche sind eben die Symptome der schleichenden Krisis. Optimisten
wie Wenckstern nennen solche Zusammenbruche einen Gesnndungsprozeß. Nun
ja, jede Krankheit ist ein Gcsuudungsprozeß, aber an einem seiner Gesundungs¬
prozesse stirbt der Mensch zuletzt, und der wirtschaftliche Tod der Völker ist
nicht unerhört in der Geschichte. Marx hat nun diese „Gesundungsprozesse"
im Zusammenhange gesehen. Indem er deu Verlauf der kapitalistischen Ent¬
wicklung im großen und ganzen überblickte, unterlag er derselben Täuschung
wie der Beschauer eines Gebirges, das ihm als ein einziger Berg erscheint,
sich aber beim Wandern in unzählige Berge und Schluchten auflöst.

Daß die Maschine den Arbeiter totschlage, und daß die durch deu tech¬
nischen Fortschritt frei werdenden Arbeiter zu uicht mehr zu bewältigenden
Massen anschwellen würden, das war einer der Irrtümer, die dem Anblick der
englischen Zustände um die Mitte unsers Jahrhunderts unvermeidlich ent¬
springen mußten. Wenckstern hat ganz gut erklärt, wie es zugeht, daß die
durch den technischen Fortschritt freigewordnen Arbeiter bis jetzt durch den¬
selben technischen Fortschritt immer wieder untergebracht worden sind, aber er
schießt zum drittenmale über das Ziel hinaus, wenn er glauben machen will,
das gehe ganz glatt von statten, nud eine Arbeitslosenfrage gebe es gar nicht.
Solchen, Optimismus gegenüber verweise ich auf das in „Weder Kommunismus
noch Kapitalismus" S. 163 bis 171 Gesagte, das ich hier uicht noch einmal
wiederholen kann. In England nimmt mau die Arbeitslosenfrage keineswegs
leicht, wie die Schlußbemerkungen des Berichts des Arbeitsamtes von 1893
beweisen (vorjähriges 50. Heft, S. 505).

(Schluß folgt)




Lin sozialpolitischer Rückblick

le Neichstagswahlen von 1898 fangen an, die Gemüter zu erregen.
Namentlich im agrarischen und im freisinnigen Parteilager scheint
man sich zu einem Kampf aufs Messer zu rüsten; Kartelle werden
angebahnt, und Programme sind in Arbeit. Es wäre verfrüht,
im Augenblick Betrachtungen für die Zukunft anzustellen, wo jeder
Tag, jede Woche neue Schlaglichter auf die Ziele und auch auf die Aussichten
der bevorstehenden Kämpfe verspricht; aber angebracht ist vielleicht ein Ruck-


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[0299] Ein sozialpolitischer Rückblick nicht eintreten; aber an seiner Stelle haben wir fortwährende kleine Zusammen¬ bruche, die von den Betroffnen darum nicht weniger schmerzlich empfunden werden, weil es neben ihnen immer noch Unbetroffne giebt; und diese kleinen Zusammenbruche sind eben die Symptome der schleichenden Krisis. Optimisten wie Wenckstern nennen solche Zusammenbruche einen Gesnndungsprozeß. Nun ja, jede Krankheit ist ein Gcsuudungsprozeß, aber an einem seiner Gesundungs¬ prozesse stirbt der Mensch zuletzt, und der wirtschaftliche Tod der Völker ist nicht unerhört in der Geschichte. Marx hat nun diese „Gesundungsprozesse" im Zusammenhange gesehen. Indem er deu Verlauf der kapitalistischen Ent¬ wicklung im großen und ganzen überblickte, unterlag er derselben Täuschung wie der Beschauer eines Gebirges, das ihm als ein einziger Berg erscheint, sich aber beim Wandern in unzählige Berge und Schluchten auflöst. Daß die Maschine den Arbeiter totschlage, und daß die durch deu tech¬ nischen Fortschritt frei werdenden Arbeiter zu uicht mehr zu bewältigenden Massen anschwellen würden, das war einer der Irrtümer, die dem Anblick der englischen Zustände um die Mitte unsers Jahrhunderts unvermeidlich ent¬ springen mußten. Wenckstern hat ganz gut erklärt, wie es zugeht, daß die durch den technischen Fortschritt freigewordnen Arbeiter bis jetzt durch den¬ selben technischen Fortschritt immer wieder untergebracht worden sind, aber er schießt zum drittenmale über das Ziel hinaus, wenn er glauben machen will, das gehe ganz glatt von statten, nud eine Arbeitslosenfrage gebe es gar nicht. Solchen, Optimismus gegenüber verweise ich auf das in „Weder Kommunismus noch Kapitalismus" S. 163 bis 171 Gesagte, das ich hier uicht noch einmal wiederholen kann. In England nimmt mau die Arbeitslosenfrage keineswegs leicht, wie die Schlußbemerkungen des Berichts des Arbeitsamtes von 1893 beweisen (vorjähriges 50. Heft, S. 505). (Schluß folgt) Lin sozialpolitischer Rückblick le Neichstagswahlen von 1898 fangen an, die Gemüter zu erregen. Namentlich im agrarischen und im freisinnigen Parteilager scheint man sich zu einem Kampf aufs Messer zu rüsten; Kartelle werden angebahnt, und Programme sind in Arbeit. Es wäre verfrüht, im Augenblick Betrachtungen für die Zukunft anzustellen, wo jeder Tag, jede Woche neue Schlaglichter auf die Ziele und auch auf die Aussichten der bevorstehenden Kämpfe verspricht; aber angebracht ist vielleicht ein Ruck-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/299>, abgerufen am 30.04.2024.