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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Berliner Schillerpreisdramen

Das zwanzigste Jahrhundert wird eine Zeit sehen, wo der lange Krieg
Zwischen Naturwissenschaft und positiver Weltanschauung zu Ende ist. Der
Jünger positiver Ideen wird nicht mehr jede neue Großthat der Naturwissen¬
schaft als einen gegen ihn gerichteten Schlag empfinden. Er wird sich nicht
mehr versucht fühlen -- wie bisher leider so oft --, der fortschreitenden Natur¬
wissenschaft in den Arm zu fallen. Wer nicht geneigt ist, sich selbst bloß als
ein Konglomerat aus Atomen von 0, R, 0, L anzusehen, wird deshalb
noch nicht als unheilbar bornirt beiseite geschoben werden. Und eben so wenig
wird die grundsätzliche Verneinung alles Unbewiesenen als eine notwendige
Eigenschaft des Gebildeten gefordert werden. Eine mit der Naturwissenschaft
versöhnte, breit auf ihren Ergebnissen ruhende positive Weltanschauung wird
der Glaube der Zukunft sein. Weg mit der Mutlosigkeit der Anhänger
positiver Weltanschauung, ihr ist die Zukunft!

Möge der Friedensschluß zwischen Naturwissenschaft und positiver Welt¬
anschauung nicht so lange Zeit brauchen, wie der Krieg gewährt hat, mögen
sich die Kräfte, die sich jetzt bekämpfen und zersplittern, bald zur Erreichung
gemeinsamer Ziele vereinigen. Mögen die dazu helfen, die es angeht!




Die Berliner Schillerpreisdramen

le frommen und gläubigen Chronisten der Kreuzzüge und des
Mittelalters überhaupt wissen von großen Mirakeljahren zu er¬
zählen, in denen der gewöhnliche Verlauf aller Begebenheiten und
Menschenschicksnle durch offenbare Wunder in Schwung oder ge¬
waltige Umkehr gekommen war. Als g,Qvu8 mirg-bills dieser Art
scheint das Jahr 1896 in den Annalen der deutschen Litteratur oder vielmehr
in den Annalen des Litteratur- und Bühnentreibens der deutscheu Reichshaupt-
stadt gebucht werden zu sollen. Unter weithinschallendem Getöse und den
Schlachtrufen "Hie alte, hie neue Kunst!" werden von Berlin aus zwei "Preis¬
dramen" auf den Schild gehoben, mit klirrenden Schwertern begrüßt und mit
einem Posaunenschall verkündet, daß man meinen möchte, die deutsche Litteratur
müsse entweder von der Preiskrönung des Doppeldramas Heinrich und
Heinrichs Geschlecht von Ernst von Wildenbruch oder von der Nicht-
krönung des Märchenschauspiels Die versunkne Glocke von Gerhart Haupt¬
mann den Beginn ihres dritten goldnen Zeitalters datiren. Jeder bescheidne
Einwand gegen die Dekrete des einen oder des andern der in Berlin lagerten


Die Berliner Schillerpreisdramen

Das zwanzigste Jahrhundert wird eine Zeit sehen, wo der lange Krieg
Zwischen Naturwissenschaft und positiver Weltanschauung zu Ende ist. Der
Jünger positiver Ideen wird nicht mehr jede neue Großthat der Naturwissen¬
schaft als einen gegen ihn gerichteten Schlag empfinden. Er wird sich nicht
mehr versucht fühlen — wie bisher leider so oft —, der fortschreitenden Natur¬
wissenschaft in den Arm zu fallen. Wer nicht geneigt ist, sich selbst bloß als
ein Konglomerat aus Atomen von 0, R, 0, L anzusehen, wird deshalb
noch nicht als unheilbar bornirt beiseite geschoben werden. Und eben so wenig
wird die grundsätzliche Verneinung alles Unbewiesenen als eine notwendige
Eigenschaft des Gebildeten gefordert werden. Eine mit der Naturwissenschaft
versöhnte, breit auf ihren Ergebnissen ruhende positive Weltanschauung wird
der Glaube der Zukunft sein. Weg mit der Mutlosigkeit der Anhänger
positiver Weltanschauung, ihr ist die Zukunft!

Möge der Friedensschluß zwischen Naturwissenschaft und positiver Welt¬
anschauung nicht so lange Zeit brauchen, wie der Krieg gewährt hat, mögen
sich die Kräfte, die sich jetzt bekämpfen und zersplittern, bald zur Erreichung
gemeinsamer Ziele vereinigen. Mögen die dazu helfen, die es angeht!




Die Berliner Schillerpreisdramen

le frommen und gläubigen Chronisten der Kreuzzüge und des
Mittelalters überhaupt wissen von großen Mirakeljahren zu er¬
zählen, in denen der gewöhnliche Verlauf aller Begebenheiten und
Menschenschicksnle durch offenbare Wunder in Schwung oder ge¬
waltige Umkehr gekommen war. Als g,Qvu8 mirg-bills dieser Art
scheint das Jahr 1896 in den Annalen der deutschen Litteratur oder vielmehr
in den Annalen des Litteratur- und Bühnentreibens der deutscheu Reichshaupt-
stadt gebucht werden zu sollen. Unter weithinschallendem Getöse und den
Schlachtrufen „Hie alte, hie neue Kunst!" werden von Berlin aus zwei „Preis¬
dramen" auf den Schild gehoben, mit klirrenden Schwertern begrüßt und mit
einem Posaunenschall verkündet, daß man meinen möchte, die deutsche Litteratur
müsse entweder von der Preiskrönung des Doppeldramas Heinrich und
Heinrichs Geschlecht von Ernst von Wildenbruch oder von der Nicht-
krönung des Märchenschauspiels Die versunkne Glocke von Gerhart Haupt¬
mann den Beginn ihres dritten goldnen Zeitalters datiren. Jeder bescheidne
Einwand gegen die Dekrete des einen oder des andern der in Berlin lagerten


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[0032] Die Berliner Schillerpreisdramen Das zwanzigste Jahrhundert wird eine Zeit sehen, wo der lange Krieg Zwischen Naturwissenschaft und positiver Weltanschauung zu Ende ist. Der Jünger positiver Ideen wird nicht mehr jede neue Großthat der Naturwissen¬ schaft als einen gegen ihn gerichteten Schlag empfinden. Er wird sich nicht mehr versucht fühlen — wie bisher leider so oft —, der fortschreitenden Natur¬ wissenschaft in den Arm zu fallen. Wer nicht geneigt ist, sich selbst bloß als ein Konglomerat aus Atomen von 0, R, 0, L anzusehen, wird deshalb noch nicht als unheilbar bornirt beiseite geschoben werden. Und eben so wenig wird die grundsätzliche Verneinung alles Unbewiesenen als eine notwendige Eigenschaft des Gebildeten gefordert werden. Eine mit der Naturwissenschaft versöhnte, breit auf ihren Ergebnissen ruhende positive Weltanschauung wird der Glaube der Zukunft sein. Weg mit der Mutlosigkeit der Anhänger positiver Weltanschauung, ihr ist die Zukunft! Möge der Friedensschluß zwischen Naturwissenschaft und positiver Welt¬ anschauung nicht so lange Zeit brauchen, wie der Krieg gewährt hat, mögen sich die Kräfte, die sich jetzt bekämpfen und zersplittern, bald zur Erreichung gemeinsamer Ziele vereinigen. Mögen die dazu helfen, die es angeht! Die Berliner Schillerpreisdramen le frommen und gläubigen Chronisten der Kreuzzüge und des Mittelalters überhaupt wissen von großen Mirakeljahren zu er¬ zählen, in denen der gewöhnliche Verlauf aller Begebenheiten und Menschenschicksnle durch offenbare Wunder in Schwung oder ge¬ waltige Umkehr gekommen war. Als g,Qvu8 mirg-bills dieser Art scheint das Jahr 1896 in den Annalen der deutschen Litteratur oder vielmehr in den Annalen des Litteratur- und Bühnentreibens der deutscheu Reichshaupt- stadt gebucht werden zu sollen. Unter weithinschallendem Getöse und den Schlachtrufen „Hie alte, hie neue Kunst!" werden von Berlin aus zwei „Preis¬ dramen" auf den Schild gehoben, mit klirrenden Schwertern begrüßt und mit einem Posaunenschall verkündet, daß man meinen möchte, die deutsche Litteratur müsse entweder von der Preiskrönung des Doppeldramas Heinrich und Heinrichs Geschlecht von Ernst von Wildenbruch oder von der Nicht- krönung des Märchenschauspiels Die versunkne Glocke von Gerhart Haupt¬ mann den Beginn ihres dritten goldnen Zeitalters datiren. Jeder bescheidne Einwand gegen die Dekrete des einen oder des andern der in Berlin lagerten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/32>, abgerufen am 01.05.2024.