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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Weltgeheimnis lösen will? Charakteristisch für den Helden ist es, daß uns
Nieder seine Reue noch seine Rückkehr zu Nautendelein nahe geht, der Höhe¬
punkt der Dichtung liegt in dem zweiten und dritten Akt, wo uns volles,
warmes Leben umspielt und die Kraft in der Beschränkung wirkt, die Gerhart
Hauptmanns beste Eigentümlichkeit ist. An Einzelschönheiten ist die "Ver-
sunkne Glocke" reich, aber schließlich doch nicht reicher als zahlreiche, längst
für "überwunden" erklärte romantische Dichtungen vergangner Tage, vor denen
sie höchstens die feste Beherrschung der Szene voraus hat.

Doch auf eine Würdigung dieser Einzelheiten, auf eine abschließende
Studie über das Werk, aus Erörterung der Härten, ja Roheiten, die neben
den Schönheiten zu Tage treten, ist es hier nicht abgesehen. Hier fragt es
sich lediglich, ob eine Dichtung wie die "Versunkne Glocke" ein Recht hat,
als eine für alle Zukunft maßgebende Wundcroffenbarung des Genius verkündet
zu werden, ob das deutsche Volk seiner Litteratur gegenüber so gefühllos und
urteilslos geworden ist, daß es in der Hand einer kleinen Sippe von "Machern"
liegt, nach Belieben die Werte umzuwerteu, Gold für Blei, ein Gemisch von
Edelmetall und geringer Zuthat für wertvoller als Gold zu erklären. Wie weit
sich Gerhart Hauptmanns Entwicklung noch erstrecken wird, soll niemand voreilig
bestimmen; immerhin verspricht der eine Entwicklung, der von dem Drama "Vor
Sonnenaufgang" bis zur "Versunknen Glocke" gelangt ist. Und auch das soll
als löblich hervorgehoben werden, daß, während bei den ersten naturalistischen
Anläufen des Dichters Goethe und Schiller als leblose akademische Gesellen weit
iibertroffen hießen, sie diesmal als Taufzengen des Genius angerufen werden.
Nur sei bescheiden bemerkt, daß, so unzweifelhaft "Werther" und die "Räuber"
geniale Werke sind, wir in ihren Dichtern weder die hohen Genien, noch die
führenden Heroen unsrer Litteratur verehren würden, wenn Goethe nur den
"Werther" und Schiller nur die "Räuber" geschrieben hätte.




Essays

me gutgeschriebue, allgemeinverständliche Abhandlung über einen
wissenswerten Gegenstand nannte man schon vor Jahrhunderten
in Frankreich sssai, in Italien Sö-Mio, etwas später kam diese
Form litterarischer Mitteilung als c-shap in England auf, und
von da erst haben wir vor etwa dreißig Jahren nicht sowohl
die Sache nach ihrem vollen Werte, als vielmehr den Ausdruck Essays be¬
kommen. In England ist nämlich diese Art der Schriftstellerei zur höchsten


Grenzboten I 18"? S
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Weltgeheimnis lösen will? Charakteristisch für den Helden ist es, daß uns
Nieder seine Reue noch seine Rückkehr zu Nautendelein nahe geht, der Höhe¬
punkt der Dichtung liegt in dem zweiten und dritten Akt, wo uns volles,
warmes Leben umspielt und die Kraft in der Beschränkung wirkt, die Gerhart
Hauptmanns beste Eigentümlichkeit ist. An Einzelschönheiten ist die „Ver-
sunkne Glocke" reich, aber schließlich doch nicht reicher als zahlreiche, längst
für „überwunden" erklärte romantische Dichtungen vergangner Tage, vor denen
sie höchstens die feste Beherrschung der Szene voraus hat.

Doch auf eine Würdigung dieser Einzelheiten, auf eine abschließende
Studie über das Werk, aus Erörterung der Härten, ja Roheiten, die neben
den Schönheiten zu Tage treten, ist es hier nicht abgesehen. Hier fragt es
sich lediglich, ob eine Dichtung wie die „Versunkne Glocke" ein Recht hat,
als eine für alle Zukunft maßgebende Wundcroffenbarung des Genius verkündet
zu werden, ob das deutsche Volk seiner Litteratur gegenüber so gefühllos und
urteilslos geworden ist, daß es in der Hand einer kleinen Sippe von „Machern"
liegt, nach Belieben die Werte umzuwerteu, Gold für Blei, ein Gemisch von
Edelmetall und geringer Zuthat für wertvoller als Gold zu erklären. Wie weit
sich Gerhart Hauptmanns Entwicklung noch erstrecken wird, soll niemand voreilig
bestimmen; immerhin verspricht der eine Entwicklung, der von dem Drama „Vor
Sonnenaufgang" bis zur „Versunknen Glocke" gelangt ist. Und auch das soll
als löblich hervorgehoben werden, daß, während bei den ersten naturalistischen
Anläufen des Dichters Goethe und Schiller als leblose akademische Gesellen weit
iibertroffen hießen, sie diesmal als Taufzengen des Genius angerufen werden.
Nur sei bescheiden bemerkt, daß, so unzweifelhaft „Werther" und die „Räuber"
geniale Werke sind, wir in ihren Dichtern weder die hohen Genien, noch die
führenden Heroen unsrer Litteratur verehren würden, wenn Goethe nur den
„Werther" und Schiller nur die „Räuber" geschrieben hätte.




Essays

me gutgeschriebue, allgemeinverständliche Abhandlung über einen
wissenswerten Gegenstand nannte man schon vor Jahrhunderten
in Frankreich sssai, in Italien Sö-Mio, etwas später kam diese
Form litterarischer Mitteilung als c-shap in England auf, und
von da erst haben wir vor etwa dreißig Jahren nicht sowohl
die Sache nach ihrem vollen Werte, als vielmehr den Ausdruck Essays be¬
kommen. In England ist nämlich diese Art der Schriftstellerei zur höchsten


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[0041] Lssays Weltgeheimnis lösen will? Charakteristisch für den Helden ist es, daß uns Nieder seine Reue noch seine Rückkehr zu Nautendelein nahe geht, der Höhe¬ punkt der Dichtung liegt in dem zweiten und dritten Akt, wo uns volles, warmes Leben umspielt und die Kraft in der Beschränkung wirkt, die Gerhart Hauptmanns beste Eigentümlichkeit ist. An Einzelschönheiten ist die „Ver- sunkne Glocke" reich, aber schließlich doch nicht reicher als zahlreiche, längst für „überwunden" erklärte romantische Dichtungen vergangner Tage, vor denen sie höchstens die feste Beherrschung der Szene voraus hat. Doch auf eine Würdigung dieser Einzelheiten, auf eine abschließende Studie über das Werk, aus Erörterung der Härten, ja Roheiten, die neben den Schönheiten zu Tage treten, ist es hier nicht abgesehen. Hier fragt es sich lediglich, ob eine Dichtung wie die „Versunkne Glocke" ein Recht hat, als eine für alle Zukunft maßgebende Wundcroffenbarung des Genius verkündet zu werden, ob das deutsche Volk seiner Litteratur gegenüber so gefühllos und urteilslos geworden ist, daß es in der Hand einer kleinen Sippe von „Machern" liegt, nach Belieben die Werte umzuwerteu, Gold für Blei, ein Gemisch von Edelmetall und geringer Zuthat für wertvoller als Gold zu erklären. Wie weit sich Gerhart Hauptmanns Entwicklung noch erstrecken wird, soll niemand voreilig bestimmen; immerhin verspricht der eine Entwicklung, der von dem Drama „Vor Sonnenaufgang" bis zur „Versunknen Glocke" gelangt ist. Und auch das soll als löblich hervorgehoben werden, daß, während bei den ersten naturalistischen Anläufen des Dichters Goethe und Schiller als leblose akademische Gesellen weit iibertroffen hießen, sie diesmal als Taufzengen des Genius angerufen werden. Nur sei bescheiden bemerkt, daß, so unzweifelhaft „Werther" und die „Räuber" geniale Werke sind, wir in ihren Dichtern weder die hohen Genien, noch die führenden Heroen unsrer Litteratur verehren würden, wenn Goethe nur den „Werther" und Schiller nur die „Räuber" geschrieben hätte. Essays me gutgeschriebue, allgemeinverständliche Abhandlung über einen wissenswerten Gegenstand nannte man schon vor Jahrhunderten in Frankreich sssai, in Italien Sö-Mio, etwas später kam diese Form litterarischer Mitteilung als c-shap in England auf, und von da erst haben wir vor etwa dreißig Jahren nicht sowohl die Sache nach ihrem vollen Werte, als vielmehr den Ausdruck Essays be¬ kommen. In England ist nämlich diese Art der Schriftstellerei zur höchsten Grenzboten I 18»? S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/41>, abgerufen am 01.05.2024.