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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Die Berliner Schillerpreisdramen

mehr von neidischen Naturgeistern gestürzt wird, und der auf dem Siechenbett
lieber sterben als sich den heißen starken Trank des Lebens zur schalen Brühe
"dünn, abgestanden, säuerlich und kalt" werden lassen will, ist kein übler
Vertreter des trotzigen Höhenwahns des jungen Geschlechts, das ohne Flügel
zur Sonne empordringen will. Daß er nicht im Bergsee bei seiner Glocke
unten liegt, dankt er dem Eingreifen eines "ethischen Wesens," Nautendelein,
die an dem schönen, stolzen Menschenkinde Wohlgefallen gefunden hat. Sie
folgt dem Erretteten und Zerschlagnen ins Dorf, flößt ihm mit ihren Tränken
und Küssen Gesundheit und neues Lebensverlanger ein und lockt ihn zu sich
empor auf den Grat der Berge, wo Heinrich mit gewaltiger Kraft ein neues,
besseres Werk beginnt. Freilich hat er Weib und Kind verlassen müssen, aber
er schafft bei seinem Feuer da oben ein Werk, wie er noch keines erdacht hat,
ein Glockenspiel ans edelstem Metall, das aus sich selber, klingend, sich bewegt
und beim Fest der "Urmutter Sonne" (der Heinrich einen Tempel bauen will)
mit einer Kraft des Schalles, die an Urgewalt dem Frühlingsdoiiuer gleich
ist, aller Kirchen Glocken verstummen machen soll. Dem Pfarrer, der ihm ins
Gebirge nachgestiegen ist, kaun diese Zuversicht nur als Wahnsinn und die
Liebe zu Nautendelein nur als Sünde erscheinen, er mahnt an die, die Heinrich
unten verlassen hat, und empfängt die Übermenschcnantwort, daß der, "der
Falkenklaucn statt Finger hat," nicht eines kranken Kindes feuchte Wangen
streicheln könne. Nun aber geschieht, was geschehen muß: bei seinem Schaffen
erscheinen ihm die Bilder seiner verlassenen Kinder und verkünden ihm, daß
die verzweifelnde Mutter ihr Ende im See gesucht hat; er hört seine versnnkne
Glocke wie die Stimme des Gewissens aus der Tiefe klingen, stößt Nautendelein
von sich, verflucht sie, sich selbst, sein Werk und alles, wird aber dann im fünften
Akt doch wieder von tiefer Sehnsucht nach der Geliebten ergriffen und findet sie
als des Nickelmanns Weib und in ihrer letzten Umarmung den ersehnten Tod.
Um diesen Kern der Handlung spielt nun das Weben und Treiben der Berg-
und Waldgeister, die in das Schicksal des Glockengießers verflochten sind und
es bestimmen: neben Nautendelein deren Großmutter, die "alte Wittichen," eine
Berghexe, die reinsten schlesischen Dialekt spricht, der Nickelmann, ein Wasser¬
geist, der Waldschrnt, ein fannischer Waldgeist, dazu Elfen, Zwerge, Holz-
münnchen und Holzweibchen, alle den Menschen feindlich, die alte Wittichen
dazu von der Erkenntnis durchdrungen, daß Heinrich nicht der ganze Mann
und Meister ist, der sich von Irdischen zu lösen, über das Irdische empor¬
zuschwingen vermag ("du woarscht berufa, ok bins a Auserwählter woarschte
nich!"). Wer kann zweifeln, daß wir damit mitten in die Romantik zurück¬
versetzt werden? was wollen gegenüber dem romantisch-symbolischen Grund-
Wesen und Grundton der Dichtung die vereinzelten Anklänge an moderne Kunst
und Philosophie und die Ausbrüche einer Sehnsucht bedeuten, die über das Ge¬
gebne hinwegfliegen, die mit dem Vertropfen des eignen Herzblutes das unlösbare


Die Berliner Schillerpreisdramen

mehr von neidischen Naturgeistern gestürzt wird, und der auf dem Siechenbett
lieber sterben als sich den heißen starken Trank des Lebens zur schalen Brühe
„dünn, abgestanden, säuerlich und kalt" werden lassen will, ist kein übler
Vertreter des trotzigen Höhenwahns des jungen Geschlechts, das ohne Flügel
zur Sonne empordringen will. Daß er nicht im Bergsee bei seiner Glocke
unten liegt, dankt er dem Eingreifen eines „ethischen Wesens," Nautendelein,
die an dem schönen, stolzen Menschenkinde Wohlgefallen gefunden hat. Sie
folgt dem Erretteten und Zerschlagnen ins Dorf, flößt ihm mit ihren Tränken
und Küssen Gesundheit und neues Lebensverlanger ein und lockt ihn zu sich
empor auf den Grat der Berge, wo Heinrich mit gewaltiger Kraft ein neues,
besseres Werk beginnt. Freilich hat er Weib und Kind verlassen müssen, aber
er schafft bei seinem Feuer da oben ein Werk, wie er noch keines erdacht hat,
ein Glockenspiel ans edelstem Metall, das aus sich selber, klingend, sich bewegt
und beim Fest der „Urmutter Sonne" (der Heinrich einen Tempel bauen will)
mit einer Kraft des Schalles, die an Urgewalt dem Frühlingsdoiiuer gleich
ist, aller Kirchen Glocken verstummen machen soll. Dem Pfarrer, der ihm ins
Gebirge nachgestiegen ist, kaun diese Zuversicht nur als Wahnsinn und die
Liebe zu Nautendelein nur als Sünde erscheinen, er mahnt an die, die Heinrich
unten verlassen hat, und empfängt die Übermenschcnantwort, daß der, „der
Falkenklaucn statt Finger hat," nicht eines kranken Kindes feuchte Wangen
streicheln könne. Nun aber geschieht, was geschehen muß: bei seinem Schaffen
erscheinen ihm die Bilder seiner verlassenen Kinder und verkünden ihm, daß
die verzweifelnde Mutter ihr Ende im See gesucht hat; er hört seine versnnkne
Glocke wie die Stimme des Gewissens aus der Tiefe klingen, stößt Nautendelein
von sich, verflucht sie, sich selbst, sein Werk und alles, wird aber dann im fünften
Akt doch wieder von tiefer Sehnsucht nach der Geliebten ergriffen und findet sie
als des Nickelmanns Weib und in ihrer letzten Umarmung den ersehnten Tod.
Um diesen Kern der Handlung spielt nun das Weben und Treiben der Berg-
und Waldgeister, die in das Schicksal des Glockengießers verflochten sind und
es bestimmen: neben Nautendelein deren Großmutter, die „alte Wittichen," eine
Berghexe, die reinsten schlesischen Dialekt spricht, der Nickelmann, ein Wasser¬
geist, der Waldschrnt, ein fannischer Waldgeist, dazu Elfen, Zwerge, Holz-
münnchen und Holzweibchen, alle den Menschen feindlich, die alte Wittichen
dazu von der Erkenntnis durchdrungen, daß Heinrich nicht der ganze Mann
und Meister ist, der sich von Irdischen zu lösen, über das Irdische empor¬
zuschwingen vermag („du woarscht berufa, ok bins a Auserwählter woarschte
nich!"). Wer kann zweifeln, daß wir damit mitten in die Romantik zurück¬
versetzt werden? was wollen gegenüber dem romantisch-symbolischen Grund-
Wesen und Grundton der Dichtung die vereinzelten Anklänge an moderne Kunst
und Philosophie und die Ausbrüche einer Sehnsucht bedeuten, die über das Ge¬
gebne hinwegfliegen, die mit dem Vertropfen des eignen Herzblutes das unlösbare


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[0040] Die Berliner Schillerpreisdramen mehr von neidischen Naturgeistern gestürzt wird, und der auf dem Siechenbett lieber sterben als sich den heißen starken Trank des Lebens zur schalen Brühe „dünn, abgestanden, säuerlich und kalt" werden lassen will, ist kein übler Vertreter des trotzigen Höhenwahns des jungen Geschlechts, das ohne Flügel zur Sonne empordringen will. Daß er nicht im Bergsee bei seiner Glocke unten liegt, dankt er dem Eingreifen eines „ethischen Wesens," Nautendelein, die an dem schönen, stolzen Menschenkinde Wohlgefallen gefunden hat. Sie folgt dem Erretteten und Zerschlagnen ins Dorf, flößt ihm mit ihren Tränken und Küssen Gesundheit und neues Lebensverlanger ein und lockt ihn zu sich empor auf den Grat der Berge, wo Heinrich mit gewaltiger Kraft ein neues, besseres Werk beginnt. Freilich hat er Weib und Kind verlassen müssen, aber er schafft bei seinem Feuer da oben ein Werk, wie er noch keines erdacht hat, ein Glockenspiel ans edelstem Metall, das aus sich selber, klingend, sich bewegt und beim Fest der „Urmutter Sonne" (der Heinrich einen Tempel bauen will) mit einer Kraft des Schalles, die an Urgewalt dem Frühlingsdoiiuer gleich ist, aller Kirchen Glocken verstummen machen soll. Dem Pfarrer, der ihm ins Gebirge nachgestiegen ist, kaun diese Zuversicht nur als Wahnsinn und die Liebe zu Nautendelein nur als Sünde erscheinen, er mahnt an die, die Heinrich unten verlassen hat, und empfängt die Übermenschcnantwort, daß der, „der Falkenklaucn statt Finger hat," nicht eines kranken Kindes feuchte Wangen streicheln könne. Nun aber geschieht, was geschehen muß: bei seinem Schaffen erscheinen ihm die Bilder seiner verlassenen Kinder und verkünden ihm, daß die verzweifelnde Mutter ihr Ende im See gesucht hat; er hört seine versnnkne Glocke wie die Stimme des Gewissens aus der Tiefe klingen, stößt Nautendelein von sich, verflucht sie, sich selbst, sein Werk und alles, wird aber dann im fünften Akt doch wieder von tiefer Sehnsucht nach der Geliebten ergriffen und findet sie als des Nickelmanns Weib und in ihrer letzten Umarmung den ersehnten Tod. Um diesen Kern der Handlung spielt nun das Weben und Treiben der Berg- und Waldgeister, die in das Schicksal des Glockengießers verflochten sind und es bestimmen: neben Nautendelein deren Großmutter, die „alte Wittichen," eine Berghexe, die reinsten schlesischen Dialekt spricht, der Nickelmann, ein Wasser¬ geist, der Waldschrnt, ein fannischer Waldgeist, dazu Elfen, Zwerge, Holz- münnchen und Holzweibchen, alle den Menschen feindlich, die alte Wittichen dazu von der Erkenntnis durchdrungen, daß Heinrich nicht der ganze Mann und Meister ist, der sich von Irdischen zu lösen, über das Irdische empor¬ zuschwingen vermag („du woarscht berufa, ok bins a Auserwählter woarschte nich!"). Wer kann zweifeln, daß wir damit mitten in die Romantik zurück¬ versetzt werden? was wollen gegenüber dem romantisch-symbolischen Grund- Wesen und Grundton der Dichtung die vereinzelten Anklänge an moderne Kunst und Philosophie und die Ausbrüche einer Sehnsucht bedeuten, die über das Ge¬ gebne hinwegfliegen, die mit dem Vertropfen des eignen Herzblutes das unlösbare

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/40>, abgerufen am 21.05.2024.