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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeit¬
genossen

cQMcum wir eine Schmncumsche Symphonie hören oder spielen, so
beschleicht uns wohl mitten in der Freude und dem Genuß eine
wehmütige Vorstellung: wie schade, daß das Beethoven nicht hat
hören können! Was würde er dazu gesagt haben? Würde es
ihm gefallen haben? Gefallen! New, würde er nicht entzückt
davon gewesen sein, so entzückt wie wir heute? Würde er nicht bereitwillig
zugestanden haben, daß hier bei aller Abhängigkeit von ihm -- namentlich in
dem äußern Aufbau des Ganzen wie der einzelnen Teile -- doch auch in
manchen Beziehungen ein Schritt über ihn hinaus gethan sei: in der Innig¬
keit und Süße der Melodik, in dem Reichtum der Modulationen und der
Rhythmen, in der Farbenmischung und Farbenpracht der Jnstrumentation?
Oder würde er unmutig die Brauen verzogen und über Sinnlichkeit, Unnatur,
Übertreibung gewettert haben?

Ähnliche Gedanken kommen uns, wenn wir einen Liedertext aus dem
achtzehnten Jahrhundert, etwa ein Goethisches Lied aus der Zeit von 1770
bis 1780 in einer Komposition aus den zwanziger oder dreißiger Jahren unsers
Jahrhunderts hören und damit die eine oder andre von den Kompositionen
vergleichen, in denen es Goethe selbst und seine Zeitgenossen gehört haben.
Was würde Goethe gesagt haben, was würden seine beiden Leibkvmpvnisten
Neichcirdt und Zelter gesagt haben, wenn sie eines Tags den Fischer (Das
Wasser rauscht', das Wasser schwoll), in der Komposition von Moritz Haupt-
mann Hütten hören und mit ihren eignen Kompositionen vergleichen können?
Würden sie völlig neidlose Freude empfunden haben, wenn sie nach ihren arm¬
seligen, leierigen Strophenliedchen mit ihren leeren Melodien, ihren paar
Ausweichungen und ihrer dünnen, klapprigen Begleitung diese breit ausgeführte
dramatische Schilderung, diese seelenvolle, freie und doch aufs innigste den
Worten sich auschmiegende Melodie, diese voll und reich dahinflutende Klavier¬
begleitung mit der zugehörigen Violinstimme, die so wonnig das "seuchte Weib"
und seine schmeichelnde Lockung malt, hätten hören können, oder würden sie
geklagt haben wie der' alte Goethe einmal nach dem Anhören eines neuen




Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeit¬
genossen

cQMcum wir eine Schmncumsche Symphonie hören oder spielen, so
beschleicht uns wohl mitten in der Freude und dem Genuß eine
wehmütige Vorstellung: wie schade, daß das Beethoven nicht hat
hören können! Was würde er dazu gesagt haben? Würde es
ihm gefallen haben? Gefallen! New, würde er nicht entzückt
davon gewesen sein, so entzückt wie wir heute? Würde er nicht bereitwillig
zugestanden haben, daß hier bei aller Abhängigkeit von ihm — namentlich in
dem äußern Aufbau des Ganzen wie der einzelnen Teile — doch auch in
manchen Beziehungen ein Schritt über ihn hinaus gethan sei: in der Innig¬
keit und Süße der Melodik, in dem Reichtum der Modulationen und der
Rhythmen, in der Farbenmischung und Farbenpracht der Jnstrumentation?
Oder würde er unmutig die Brauen verzogen und über Sinnlichkeit, Unnatur,
Übertreibung gewettert haben?

Ähnliche Gedanken kommen uns, wenn wir einen Liedertext aus dem
achtzehnten Jahrhundert, etwa ein Goethisches Lied aus der Zeit von 1770
bis 1780 in einer Komposition aus den zwanziger oder dreißiger Jahren unsers
Jahrhunderts hören und damit die eine oder andre von den Kompositionen
vergleichen, in denen es Goethe selbst und seine Zeitgenossen gehört haben.
Was würde Goethe gesagt haben, was würden seine beiden Leibkvmpvnisten
Neichcirdt und Zelter gesagt haben, wenn sie eines Tags den Fischer (Das
Wasser rauscht', das Wasser schwoll), in der Komposition von Moritz Haupt-
mann Hütten hören und mit ihren eignen Kompositionen vergleichen können?
Würden sie völlig neidlose Freude empfunden haben, wenn sie nach ihren arm¬
seligen, leierigen Strophenliedchen mit ihren leeren Melodien, ihren paar
Ausweichungen und ihrer dünnen, klapprigen Begleitung diese breit ausgeführte
dramatische Schilderung, diese seelenvolle, freie und doch aufs innigste den
Worten sich auschmiegende Melodie, diese voll und reich dahinflutende Klavier¬
begleitung mit der zugehörigen Violinstimme, die so wonnig das „seuchte Weib"
und seine schmeichelnde Lockung malt, hätten hören können, oder würden sie
geklagt haben wie der' alte Goethe einmal nach dem Anhören eines neuen


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[0439] [Abbildung] Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeit¬ genossen cQMcum wir eine Schmncumsche Symphonie hören oder spielen, so beschleicht uns wohl mitten in der Freude und dem Genuß eine wehmütige Vorstellung: wie schade, daß das Beethoven nicht hat hören können! Was würde er dazu gesagt haben? Würde es ihm gefallen haben? Gefallen! New, würde er nicht entzückt davon gewesen sein, so entzückt wie wir heute? Würde er nicht bereitwillig zugestanden haben, daß hier bei aller Abhängigkeit von ihm — namentlich in dem äußern Aufbau des Ganzen wie der einzelnen Teile — doch auch in manchen Beziehungen ein Schritt über ihn hinaus gethan sei: in der Innig¬ keit und Süße der Melodik, in dem Reichtum der Modulationen und der Rhythmen, in der Farbenmischung und Farbenpracht der Jnstrumentation? Oder würde er unmutig die Brauen verzogen und über Sinnlichkeit, Unnatur, Übertreibung gewettert haben? Ähnliche Gedanken kommen uns, wenn wir einen Liedertext aus dem achtzehnten Jahrhundert, etwa ein Goethisches Lied aus der Zeit von 1770 bis 1780 in einer Komposition aus den zwanziger oder dreißiger Jahren unsers Jahrhunderts hören und damit die eine oder andre von den Kompositionen vergleichen, in denen es Goethe selbst und seine Zeitgenossen gehört haben. Was würde Goethe gesagt haben, was würden seine beiden Leibkvmpvnisten Neichcirdt und Zelter gesagt haben, wenn sie eines Tags den Fischer (Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll), in der Komposition von Moritz Haupt- mann Hütten hören und mit ihren eignen Kompositionen vergleichen können? Würden sie völlig neidlose Freude empfunden haben, wenn sie nach ihren arm¬ seligen, leierigen Strophenliedchen mit ihren leeren Melodien, ihren paar Ausweichungen und ihrer dünnen, klapprigen Begleitung diese breit ausgeführte dramatische Schilderung, diese seelenvolle, freie und doch aufs innigste den Worten sich auschmiegende Melodie, diese voll und reich dahinflutende Klavier¬ begleitung mit der zugehörigen Violinstimme, die so wonnig das „seuchte Weib" und seine schmeichelnde Lockung malt, hätten hören können, oder würden sie geklagt haben wie der' alte Goethe einmal nach dem Anhören eines neuen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/439>, abgerufen am 30.04.2024.