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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen

Klavierquartetts "eines berühmten jungen Komponisten": "Man kann solchen
Sachen aus eignem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen. Mir bleibt alles
in den Ohren hängen"?

Das kunstmäßige musikalische deutsche Lied hat in der ersten Hülste dieses
Jahrhunderts in wenigen Jahrzehnten eine erstaunliche Entwicklung durch¬
gemacht. Viel hat dazu unstreitig die neuere, nachgoethische Lyrik beigetragen.
Aber auch schon an Goethes Liedern läßt sich diese Entwicklung deutlich ver¬
folgen. Seine Liedertexte sind in der Geschichte des musikalischen deutscheu
Liedes wie allmählich sich erschließende Knospen. Die zeitgenössischen Kom¬
ponisten haben nur die Knospe gesehen, erst die spätern haben die voll entfaltete
Blüte gepflückt; die Zeitgenossen haben kaum eine Ahnung von dein lyrischen
Gehalt dieser Lieder gehabt, in ihren Kompositionen bleibt er völlig latent,
gebunden, erst die spätern haben ihn entfesselt.

Oder täuschen wir uns vielleicht? Tragen wir vielleicht die tiefere
Leidenschaft unsrer Zeit, wie sie in unsrer Musik zum Ausdruck kommt, in
jene Lieder hinein? Legen wir ihnen vielleicht etwas unter, was der Dichter
selbst und seine Zeitgenossen gar nicht gefühlt haben? Ist nicht Goethe selbst
mit vielen Kompositionen seiner Lieder, die unserm heutigen verwöhnten Ohre
leer und geistlos bis zur Lächerlichkeit erscheinen, sehr zufrieden, ja beglückt
darüber gewesen? Blenden uns nicht vielleicht die neuern Kompositionen
durch Äußerlichkeiten, vor allem durch ihre klangvollere Klavierbegleitung?
Würde sich nicht die schlichte Zeichnung manches Reichardtschen oder Zelterschen
Liedes durch eine reichere, interessantere Begleitung zu einem farbenprächtigen
Gemälde umgestalten lassen?

Nein, wir täuschen uns nicht. Die Entwicklung unsers musikalischen
Liedes geht wirklich sast um ein halbes Jahrhundert hinter der lyrischen
Dichtung her. Mauche neuere Komposition eines Goethisches Liedes steht so
hoch über denen aus Goethes Zeit, wie die ganze Lyrik Goethes über der
anakrevntischen und dem größten Teile der Musenalmanachspoesie. Goethes
eignes Urteil in diesen Dingen will nicht viel sagen, denn für die Musik war er
nur wenig beanlagt. So gern er sein Leben lang Musik gehört hat, so tief
sie ihn oft ergriffen hat, so eifrig er, wie auf vielen andern Gebieten, auch
auf diesem Gebiete bemüht gewesen ist, sich über theoretische und geschichtliche
Fragen Klarheit zu verschaffen, mau thut ihm doch nicht Unrecht, wenn man
sagt: er war eigentlich unmusikalisch. In seinem umfänglichen Briefwechsel mit
Zelter, der Hauptquelle für jeden, der über Goethes Verhältnis zur Musik ius
Klare kommen will, hat er sich selbst wiederholt musikalische Begabung und
musikalisches Urteil abgesprochen, und wir haben keinen Anlaß, ihn gegen diese
Selbsterkenntnis in Schutz zu nehmen. Goethes Lieder haben es eben vertragen,
daß sie nach Kayser und Andrv, Reichardt und Zelter, Romberg und Kleuker
auch noch von Beethoven und Schubert komponirt worden sind, und sie werde"


Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen

Klavierquartetts „eines berühmten jungen Komponisten": „Man kann solchen
Sachen aus eignem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen. Mir bleibt alles
in den Ohren hängen"?

Das kunstmäßige musikalische deutsche Lied hat in der ersten Hülste dieses
Jahrhunderts in wenigen Jahrzehnten eine erstaunliche Entwicklung durch¬
gemacht. Viel hat dazu unstreitig die neuere, nachgoethische Lyrik beigetragen.
Aber auch schon an Goethes Liedern läßt sich diese Entwicklung deutlich ver¬
folgen. Seine Liedertexte sind in der Geschichte des musikalischen deutscheu
Liedes wie allmählich sich erschließende Knospen. Die zeitgenössischen Kom¬
ponisten haben nur die Knospe gesehen, erst die spätern haben die voll entfaltete
Blüte gepflückt; die Zeitgenossen haben kaum eine Ahnung von dein lyrischen
Gehalt dieser Lieder gehabt, in ihren Kompositionen bleibt er völlig latent,
gebunden, erst die spätern haben ihn entfesselt.

Oder täuschen wir uns vielleicht? Tragen wir vielleicht die tiefere
Leidenschaft unsrer Zeit, wie sie in unsrer Musik zum Ausdruck kommt, in
jene Lieder hinein? Legen wir ihnen vielleicht etwas unter, was der Dichter
selbst und seine Zeitgenossen gar nicht gefühlt haben? Ist nicht Goethe selbst
mit vielen Kompositionen seiner Lieder, die unserm heutigen verwöhnten Ohre
leer und geistlos bis zur Lächerlichkeit erscheinen, sehr zufrieden, ja beglückt
darüber gewesen? Blenden uns nicht vielleicht die neuern Kompositionen
durch Äußerlichkeiten, vor allem durch ihre klangvollere Klavierbegleitung?
Würde sich nicht die schlichte Zeichnung manches Reichardtschen oder Zelterschen
Liedes durch eine reichere, interessantere Begleitung zu einem farbenprächtigen
Gemälde umgestalten lassen?

Nein, wir täuschen uns nicht. Die Entwicklung unsers musikalischen
Liedes geht wirklich sast um ein halbes Jahrhundert hinter der lyrischen
Dichtung her. Mauche neuere Komposition eines Goethisches Liedes steht so
hoch über denen aus Goethes Zeit, wie die ganze Lyrik Goethes über der
anakrevntischen und dem größten Teile der Musenalmanachspoesie. Goethes
eignes Urteil in diesen Dingen will nicht viel sagen, denn für die Musik war er
nur wenig beanlagt. So gern er sein Leben lang Musik gehört hat, so tief
sie ihn oft ergriffen hat, so eifrig er, wie auf vielen andern Gebieten, auch
auf diesem Gebiete bemüht gewesen ist, sich über theoretische und geschichtliche
Fragen Klarheit zu verschaffen, mau thut ihm doch nicht Unrecht, wenn man
sagt: er war eigentlich unmusikalisch. In seinem umfänglichen Briefwechsel mit
Zelter, der Hauptquelle für jeden, der über Goethes Verhältnis zur Musik ius
Klare kommen will, hat er sich selbst wiederholt musikalische Begabung und
musikalisches Urteil abgesprochen, und wir haben keinen Anlaß, ihn gegen diese
Selbsterkenntnis in Schutz zu nehmen. Goethes Lieder haben es eben vertragen,
daß sie nach Kayser und Andrv, Reichardt und Zelter, Romberg und Kleuker
auch noch von Beethoven und Schubert komponirt worden sind, und sie werde»


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[0440] Goethes Lieder in den Kompositionen seiner Zeitgenossen Klavierquartetts „eines berühmten jungen Komponisten": „Man kann solchen Sachen aus eignem Geist und Herzen nichts mehr unterlegen. Mir bleibt alles in den Ohren hängen"? Das kunstmäßige musikalische deutsche Lied hat in der ersten Hülste dieses Jahrhunderts in wenigen Jahrzehnten eine erstaunliche Entwicklung durch¬ gemacht. Viel hat dazu unstreitig die neuere, nachgoethische Lyrik beigetragen. Aber auch schon an Goethes Liedern läßt sich diese Entwicklung deutlich ver¬ folgen. Seine Liedertexte sind in der Geschichte des musikalischen deutscheu Liedes wie allmählich sich erschließende Knospen. Die zeitgenössischen Kom¬ ponisten haben nur die Knospe gesehen, erst die spätern haben die voll entfaltete Blüte gepflückt; die Zeitgenossen haben kaum eine Ahnung von dein lyrischen Gehalt dieser Lieder gehabt, in ihren Kompositionen bleibt er völlig latent, gebunden, erst die spätern haben ihn entfesselt. Oder täuschen wir uns vielleicht? Tragen wir vielleicht die tiefere Leidenschaft unsrer Zeit, wie sie in unsrer Musik zum Ausdruck kommt, in jene Lieder hinein? Legen wir ihnen vielleicht etwas unter, was der Dichter selbst und seine Zeitgenossen gar nicht gefühlt haben? Ist nicht Goethe selbst mit vielen Kompositionen seiner Lieder, die unserm heutigen verwöhnten Ohre leer und geistlos bis zur Lächerlichkeit erscheinen, sehr zufrieden, ja beglückt darüber gewesen? Blenden uns nicht vielleicht die neuern Kompositionen durch Äußerlichkeiten, vor allem durch ihre klangvollere Klavierbegleitung? Würde sich nicht die schlichte Zeichnung manches Reichardtschen oder Zelterschen Liedes durch eine reichere, interessantere Begleitung zu einem farbenprächtigen Gemälde umgestalten lassen? Nein, wir täuschen uns nicht. Die Entwicklung unsers musikalischen Liedes geht wirklich sast um ein halbes Jahrhundert hinter der lyrischen Dichtung her. Mauche neuere Komposition eines Goethisches Liedes steht so hoch über denen aus Goethes Zeit, wie die ganze Lyrik Goethes über der anakrevntischen und dem größten Teile der Musenalmanachspoesie. Goethes eignes Urteil in diesen Dingen will nicht viel sagen, denn für die Musik war er nur wenig beanlagt. So gern er sein Leben lang Musik gehört hat, so tief sie ihn oft ergriffen hat, so eifrig er, wie auf vielen andern Gebieten, auch auf diesem Gebiete bemüht gewesen ist, sich über theoretische und geschichtliche Fragen Klarheit zu verschaffen, mau thut ihm doch nicht Unrecht, wenn man sagt: er war eigentlich unmusikalisch. In seinem umfänglichen Briefwechsel mit Zelter, der Hauptquelle für jeden, der über Goethes Verhältnis zur Musik ius Klare kommen will, hat er sich selbst wiederholt musikalische Begabung und musikalisches Urteil abgesprochen, und wir haben keinen Anlaß, ihn gegen diese Selbsterkenntnis in Schutz zu nehmen. Goethes Lieder haben es eben vertragen, daß sie nach Kayser und Andrv, Reichardt und Zelter, Romberg und Kleuker auch noch von Beethoven und Schubert komponirt worden sind, und sie werde»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/440>, abgerufen am 21.05.2024.