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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Der Aufstand in Hamburg

er Aufstand der Hamburger Hafenarbeiter hat wochenlang die
öffentliche Meinung lebhaft beschäftigt. Auch die Grenzboten
haben einer Meinungsäußerung darüber Raum gewährt, und sie
halten es für angebracht, durch Aufnahme nachstehender Be¬
sprechung nochmals auf die Sache zurückzukommen, um so mehr,
als in dieser Frage in besonderm Grade die Gewinnung eines gerechten
Urteils durch die im Parteikampf vielfach beliebte Entstellung der Wahrheit
erschwert worden ist. Es ist sehr zu beklagen, daß nicht von vornherein von
Staats wegen der Thatbestand, wie er bei Ausbruch des Streiks lag, mit allen
zu Gebote stehenden Mitteln festgestellt worden ist, daß wir vielmehr heute
noch bezüglich der Arbeitsbedingungen und sonstigen Arbeitsverhältnisse vor
dem Aufstande im wesentlichen auf die sich widersprechenden Behauptungen
der beiden kümpfenden Lager angewiesen sind, Behauptungen, die wahrscheinlich
auf beiden Seiten der Wahrheit nicht entsprechen.

Nach der von dem sozialdemokratischen Agitator A. von Elm in Ur. 11
der Sozialen Praxis gegebnen Darstellung war der Tagelohn der Schauer¬
leute vor dem Streik aus 4 Mark 20 Pfennige bemessen, und die Staner waren
bereit, ihn auf 4 Mark 50 Pfennige zu erhöhen. Das war an sich zweifellos
auch für Hamburg kein schlechter Lohnsatz, zumal wenn man bedenkt, daß es
nur ein Minimallohnsatz war, über den die täglichen Akkordlöhne in der Regel
und zwar zum Teil sehr erheblich hinausgingen. Ob Arbeiter in "Akkord"
oder "fest," d. h. in Tagelohn arbeiten, hängt, soweit wir unterrichtet sind,
nicht von ihrer Tüchtigkeit ab, sondern von der Art der Schiffsladungen.
Sogenannte "Bulkartilel," d. h. Ladungen, die meist lose in den Schiffsraum
geschüttet und ebenso aus ihm herausgeschaufelt werden, wie Kohlen, Ge¬
treide, Salpeter, Reis, Guano, Erze usw., wurden immer in Akkord ver¬
laden und gelöscht, während die sogenannten "Stückgüter," d. h. in Fässern
und Kisten verpackte Waren und dergleichen, immer im Tagelohn besorgt
wurden. Waren viel Schiffe mit Bulkartikeln im Hafen, so wog die Akkordarbeit
vor, im andern Falle die Tagelohnarbeit, und derselbe Schauermann, der heute
bei einem Getreideschiff in Akkordlohn arbeitete, konnte morgen bei demselben




Der Aufstand in Hamburg

er Aufstand der Hamburger Hafenarbeiter hat wochenlang die
öffentliche Meinung lebhaft beschäftigt. Auch die Grenzboten
haben einer Meinungsäußerung darüber Raum gewährt, und sie
halten es für angebracht, durch Aufnahme nachstehender Be¬
sprechung nochmals auf die Sache zurückzukommen, um so mehr,
als in dieser Frage in besonderm Grade die Gewinnung eines gerechten
Urteils durch die im Parteikampf vielfach beliebte Entstellung der Wahrheit
erschwert worden ist. Es ist sehr zu beklagen, daß nicht von vornherein von
Staats wegen der Thatbestand, wie er bei Ausbruch des Streiks lag, mit allen
zu Gebote stehenden Mitteln festgestellt worden ist, daß wir vielmehr heute
noch bezüglich der Arbeitsbedingungen und sonstigen Arbeitsverhältnisse vor
dem Aufstande im wesentlichen auf die sich widersprechenden Behauptungen
der beiden kümpfenden Lager angewiesen sind, Behauptungen, die wahrscheinlich
auf beiden Seiten der Wahrheit nicht entsprechen.

Nach der von dem sozialdemokratischen Agitator A. von Elm in Ur. 11
der Sozialen Praxis gegebnen Darstellung war der Tagelohn der Schauer¬
leute vor dem Streik aus 4 Mark 20 Pfennige bemessen, und die Staner waren
bereit, ihn auf 4 Mark 50 Pfennige zu erhöhen. Das war an sich zweifellos
auch für Hamburg kein schlechter Lohnsatz, zumal wenn man bedenkt, daß es
nur ein Minimallohnsatz war, über den die täglichen Akkordlöhne in der Regel
und zwar zum Teil sehr erheblich hinausgingen. Ob Arbeiter in „Akkord"
oder „fest," d. h. in Tagelohn arbeiten, hängt, soweit wir unterrichtet sind,
nicht von ihrer Tüchtigkeit ab, sondern von der Art der Schiffsladungen.
Sogenannte „Bulkartilel," d. h. Ladungen, die meist lose in den Schiffsraum
geschüttet und ebenso aus ihm herausgeschaufelt werden, wie Kohlen, Ge¬
treide, Salpeter, Reis, Guano, Erze usw., wurden immer in Akkord ver¬
laden und gelöscht, während die sogenannten „Stückgüter," d. h. in Fässern
und Kisten verpackte Waren und dergleichen, immer im Tagelohn besorgt
wurden. Waren viel Schiffe mit Bulkartikeln im Hafen, so wog die Akkordarbeit
vor, im andern Falle die Tagelohnarbeit, und derselbe Schauermann, der heute
bei einem Getreideschiff in Akkordlohn arbeitete, konnte morgen bei demselben


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[0050] [Abbildung] Der Aufstand in Hamburg er Aufstand der Hamburger Hafenarbeiter hat wochenlang die öffentliche Meinung lebhaft beschäftigt. Auch die Grenzboten haben einer Meinungsäußerung darüber Raum gewährt, und sie halten es für angebracht, durch Aufnahme nachstehender Be¬ sprechung nochmals auf die Sache zurückzukommen, um so mehr, als in dieser Frage in besonderm Grade die Gewinnung eines gerechten Urteils durch die im Parteikampf vielfach beliebte Entstellung der Wahrheit erschwert worden ist. Es ist sehr zu beklagen, daß nicht von vornherein von Staats wegen der Thatbestand, wie er bei Ausbruch des Streiks lag, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln festgestellt worden ist, daß wir vielmehr heute noch bezüglich der Arbeitsbedingungen und sonstigen Arbeitsverhältnisse vor dem Aufstande im wesentlichen auf die sich widersprechenden Behauptungen der beiden kümpfenden Lager angewiesen sind, Behauptungen, die wahrscheinlich auf beiden Seiten der Wahrheit nicht entsprechen. Nach der von dem sozialdemokratischen Agitator A. von Elm in Ur. 11 der Sozialen Praxis gegebnen Darstellung war der Tagelohn der Schauer¬ leute vor dem Streik aus 4 Mark 20 Pfennige bemessen, und die Staner waren bereit, ihn auf 4 Mark 50 Pfennige zu erhöhen. Das war an sich zweifellos auch für Hamburg kein schlechter Lohnsatz, zumal wenn man bedenkt, daß es nur ein Minimallohnsatz war, über den die täglichen Akkordlöhne in der Regel und zwar zum Teil sehr erheblich hinausgingen. Ob Arbeiter in „Akkord" oder „fest," d. h. in Tagelohn arbeiten, hängt, soweit wir unterrichtet sind, nicht von ihrer Tüchtigkeit ab, sondern von der Art der Schiffsladungen. Sogenannte „Bulkartilel," d. h. Ladungen, die meist lose in den Schiffsraum geschüttet und ebenso aus ihm herausgeschaufelt werden, wie Kohlen, Ge¬ treide, Salpeter, Reis, Guano, Erze usw., wurden immer in Akkord ver¬ laden und gelöscht, während die sogenannten „Stückgüter," d. h. in Fässern und Kisten verpackte Waren und dergleichen, immer im Tagelohn besorgt wurden. Waren viel Schiffe mit Bulkartikeln im Hafen, so wog die Akkordarbeit vor, im andern Falle die Tagelohnarbeit, und derselbe Schauermann, der heute bei einem Getreideschiff in Akkordlohn arbeitete, konnte morgen bei demselben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/50>, abgerufen am 01.05.2024.