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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr.

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Griechenland und die Großmächte

geringfügig waren und in die gleiche Windel gewickelt werden können." Und
bisweilen ist der Ausdruck geradezu geschmacklos, ermüdend lange Sätze hemmen
den Fluß der Rede, und selbst stilistische Fehler sind nicht selten.

Als hervorragender Stilist kann Keller auf keinen Fall bezeichnet werden.
Er hatte für die Form ebenso wenig Sinn wie für Rechtschreibung und Inter¬
punktion. Zur Erheiterung der Leser möge hier am Schluß eine Stelle aus
einem Briefe Kellers von 1860 stehen, wo er Auerbach auffordert, seiue Kor¬
rektur zu besorgen: "Wobei ich Sie bitten müßte, die häufigen Ungleichheiten
in der Rechtschreibung, wie große oder kleine Anfangsbuchstaben u. s. f., deren
Beseitigung mir im Manuskript immer ein bitteres Kraut ist, mit dem Rotstift
zu berücksichtigen, im Falle Sie dadurch genirt sind. Mir selbst ist das durch¬
aus gleichgiltig. Ich verfahre immer nach augenblicklicher Eingebung, je nach
dem Gewicht, das ich auf das Wort lege."

Trotz all dieser Schwächen und Wunderlichkeiten, die jeder ruhige Be¬
obachter an den Werken Kellers wahrnehmen und empfinden wird, stehe ich
nicht an, ihnen, insbesondre den Novellen, die Wertschätzung angedeihen zu
lassen, die ihnen zukommt. Einige, zu denen ich in erster Linie das "Fähnlein
der sieben Aufrechten" und den "Landvogt von Greifensee" rechne, gehören
zu dem Besten, was die deutsche Litteratur in dieser Art aufzuweisen hat.
Wenn ich dennoch nicht in das maßlose Lob einstimme, das viele seiner Ver¬
ehrer dem Dichter gespendet haben, so glaube ich das genügend begründet und
damit einen Veitrag geliefert zu haben zu einer wirklich gerechten Würdigung
des Dichters Gottfried Keller.




Griechenland und die Großmächte

ffenbar befinden sich augenblicklich die europäischen Großmächte
und mit ihnen leider auch Deutschland in einer richtigen Sack¬
gasse. Ihre Einmischung in die kretisch-griechischen Dinge ist
von der Voraussetzung ausgegangen, daß sowohl die aufstän¬
dischen Kreter als das kleine Königreich Griechenland sich dem
"einmütiger Willen Europas," d. h. ins Praktische übersetzt, dem, was die
Regierungen der sechs Großmächte im Interesse des sogenannten Weltfriedens
und der plötzlich so überaus kostbaren "Integrität" des osmanischen Reichs
für gut befinden würden, gehorsamst unterwerfen müßten, und auch der un¬
geheuern Mehrheit der deutschen Presse und dem deutschen Reichstage läßt sich


Griechenland und die Großmächte

geringfügig waren und in die gleiche Windel gewickelt werden können." Und
bisweilen ist der Ausdruck geradezu geschmacklos, ermüdend lange Sätze hemmen
den Fluß der Rede, und selbst stilistische Fehler sind nicht selten.

Als hervorragender Stilist kann Keller auf keinen Fall bezeichnet werden.
Er hatte für die Form ebenso wenig Sinn wie für Rechtschreibung und Inter¬
punktion. Zur Erheiterung der Leser möge hier am Schluß eine Stelle aus
einem Briefe Kellers von 1860 stehen, wo er Auerbach auffordert, seiue Kor¬
rektur zu besorgen: „Wobei ich Sie bitten müßte, die häufigen Ungleichheiten
in der Rechtschreibung, wie große oder kleine Anfangsbuchstaben u. s. f., deren
Beseitigung mir im Manuskript immer ein bitteres Kraut ist, mit dem Rotstift
zu berücksichtigen, im Falle Sie dadurch genirt sind. Mir selbst ist das durch¬
aus gleichgiltig. Ich verfahre immer nach augenblicklicher Eingebung, je nach
dem Gewicht, das ich auf das Wort lege."

Trotz all dieser Schwächen und Wunderlichkeiten, die jeder ruhige Be¬
obachter an den Werken Kellers wahrnehmen und empfinden wird, stehe ich
nicht an, ihnen, insbesondre den Novellen, die Wertschätzung angedeihen zu
lassen, die ihnen zukommt. Einige, zu denen ich in erster Linie das „Fähnlein
der sieben Aufrechten" und den „Landvogt von Greifensee" rechne, gehören
zu dem Besten, was die deutsche Litteratur in dieser Art aufzuweisen hat.
Wenn ich dennoch nicht in das maßlose Lob einstimme, das viele seiner Ver¬
ehrer dem Dichter gespendet haben, so glaube ich das genügend begründet und
damit einen Veitrag geliefert zu haben zu einer wirklich gerechten Würdigung
des Dichters Gottfried Keller.




Griechenland und die Großmächte

ffenbar befinden sich augenblicklich die europäischen Großmächte
und mit ihnen leider auch Deutschland in einer richtigen Sack¬
gasse. Ihre Einmischung in die kretisch-griechischen Dinge ist
von der Voraussetzung ausgegangen, daß sowohl die aufstän¬
dischen Kreter als das kleine Königreich Griechenland sich dem
„einmütiger Willen Europas," d. h. ins Praktische übersetzt, dem, was die
Regierungen der sechs Großmächte im Interesse des sogenannten Weltfriedens
und der plötzlich so überaus kostbaren „Integrität" des osmanischen Reichs
für gut befinden würden, gehorsamst unterwerfen müßten, und auch der un¬
geheuern Mehrheit der deutschen Presse und dem deutschen Reichstage läßt sich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_224245/550>, abgerufen am 01.05.2024.