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Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr.

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Aus unsrer Vstmar?

natürlich den Gedanken, daß die sittlich-religiöse Besserung allen andern
sozialen Heilmitteln voranzustellen sei, mit überlegnem Lächeln zurück, ganz
wie die Vertreter der Sozialdemokratie, deuen Wagner das vorwirft. Es ist
längst abgethaner Individualismus in den Augen des hoffnungsvollen Nach¬
wuchses unser kathedersozialistischen Sterne.

Und da kann heute ein evangelisch-sozialer Christ, ein evangelisch-sozialer
Kongreß noch einem andern Streben Raum geben, als dem, der "Liebes¬
pflichtgesinnung," der freilich durch und durch individualistischen evangelisch-
sozialen Pflicht der Einzelnen wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen? Es können
ja gewiß wieder einmal Zeiten kommen, wo die evangelischen Christen mit
ihrer Kirche vorn zu stehen haben im Kampfe gegen unleidliche Unsittlich¬
sten in der Staats- und Rechtsordnung, so sehr auch das Evangelium für
solche Fälle immer die äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebietet; aber
heute kann doch von einem solchen Notstände in Staat und Recht nicht die
Rede sein, heute, mitten in einer Zeit sich überhastender Svzialreformen wie
nie zuvor. Evangelisch-soziale Arbeit hat heute weniger denn jemals Grund
und Recht, sozialpolitisch zu sein. Sie hat dringendere, höhere, heiligere Auf¬
gaben zu erfüllen, gegen die das politische Tagen und Beraten als leere, un¬
fruchtbare Spielerei und Zeitvergeudung erscheint. Die Aufgabe unsrer
evangelischen Kirche, "wahre evangelische Liebesgesinnuug zu pflegen und aus¬
zubreiten/' das ist es, was dem Evangelisch-sozialen Kongreß heute die Daseins¬
berechtigung geben könnte. Will und kann er dazu nicht helfen, dann wird
er, wie die Sachen heute liegen, nur schaden, nichts nützen, dann wird
"evangelisch-sozial" in Wahrheit zum "Unsinn."




Aus unsrer Ostmark
(Schluß)
4

le "Gefahr im Osten" ist von der Staatsregierung in ihrem
ganzen Umfang erkannt worden; die Erfahrung hat ihr gezeigt,
daß auf die Polen und die polnischen Abgeordneten kein Verlaß
ist, daß sie sich vor allem nicht in die Phalanx zum Kampf gegen
den Umsturz eingliedern lassen wollen, und daß es eher möglich
wäre, einen Homunkulus in der Retorte zu erzeugen als das Problem des
..Polnischsprechenden Preußen" zu lösen, der in seiner Sprache Gott und den


Aus unsrer Vstmar?

natürlich den Gedanken, daß die sittlich-religiöse Besserung allen andern
sozialen Heilmitteln voranzustellen sei, mit überlegnem Lächeln zurück, ganz
wie die Vertreter der Sozialdemokratie, deuen Wagner das vorwirft. Es ist
längst abgethaner Individualismus in den Augen des hoffnungsvollen Nach¬
wuchses unser kathedersozialistischen Sterne.

Und da kann heute ein evangelisch-sozialer Christ, ein evangelisch-sozialer
Kongreß noch einem andern Streben Raum geben, als dem, der „Liebes¬
pflichtgesinnung," der freilich durch und durch individualistischen evangelisch-
sozialen Pflicht der Einzelnen wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen? Es können
ja gewiß wieder einmal Zeiten kommen, wo die evangelischen Christen mit
ihrer Kirche vorn zu stehen haben im Kampfe gegen unleidliche Unsittlich¬
sten in der Staats- und Rechtsordnung, so sehr auch das Evangelium für
solche Fälle immer die äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebietet; aber
heute kann doch von einem solchen Notstände in Staat und Recht nicht die
Rede sein, heute, mitten in einer Zeit sich überhastender Svzialreformen wie
nie zuvor. Evangelisch-soziale Arbeit hat heute weniger denn jemals Grund
und Recht, sozialpolitisch zu sein. Sie hat dringendere, höhere, heiligere Auf¬
gaben zu erfüllen, gegen die das politische Tagen und Beraten als leere, un¬
fruchtbare Spielerei und Zeitvergeudung erscheint. Die Aufgabe unsrer
evangelischen Kirche, „wahre evangelische Liebesgesinnuug zu pflegen und aus¬
zubreiten/' das ist es, was dem Evangelisch-sozialen Kongreß heute die Daseins¬
berechtigung geben könnte. Will und kann er dazu nicht helfen, dann wird
er, wie die Sachen heute liegen, nur schaden, nichts nützen, dann wird
„evangelisch-sozial" in Wahrheit zum „Unsinn."




Aus unsrer Ostmark
(Schluß)
4

le „Gefahr im Osten" ist von der Staatsregierung in ihrem
ganzen Umfang erkannt worden; die Erfahrung hat ihr gezeigt,
daß auf die Polen und die polnischen Abgeordneten kein Verlaß
ist, daß sie sich vor allem nicht in die Phalanx zum Kampf gegen
den Umsturz eingliedern lassen wollen, und daß es eher möglich
wäre, einen Homunkulus in der Retorte zu erzeugen als das Problem des
..Polnischsprechenden Preußen" zu lösen, der in seiner Sprache Gott und den


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[0447] Aus unsrer Vstmar? natürlich den Gedanken, daß die sittlich-religiöse Besserung allen andern sozialen Heilmitteln voranzustellen sei, mit überlegnem Lächeln zurück, ganz wie die Vertreter der Sozialdemokratie, deuen Wagner das vorwirft. Es ist längst abgethaner Individualismus in den Augen des hoffnungsvollen Nach¬ wuchses unser kathedersozialistischen Sterne. Und da kann heute ein evangelisch-sozialer Christ, ein evangelisch-sozialer Kongreß noch einem andern Streben Raum geben, als dem, der „Liebes¬ pflichtgesinnung," der freilich durch und durch individualistischen evangelisch- sozialen Pflicht der Einzelnen wieder zu ihrem Rechte zu verhelfen? Es können ja gewiß wieder einmal Zeiten kommen, wo die evangelischen Christen mit ihrer Kirche vorn zu stehen haben im Kampfe gegen unleidliche Unsittlich¬ sten in der Staats- und Rechtsordnung, so sehr auch das Evangelium für solche Fälle immer die äußerste Vorsicht und Zurückhaltung gebietet; aber heute kann doch von einem solchen Notstände in Staat und Recht nicht die Rede sein, heute, mitten in einer Zeit sich überhastender Svzialreformen wie nie zuvor. Evangelisch-soziale Arbeit hat heute weniger denn jemals Grund und Recht, sozialpolitisch zu sein. Sie hat dringendere, höhere, heiligere Auf¬ gaben zu erfüllen, gegen die das politische Tagen und Beraten als leere, un¬ fruchtbare Spielerei und Zeitvergeudung erscheint. Die Aufgabe unsrer evangelischen Kirche, „wahre evangelische Liebesgesinnuug zu pflegen und aus¬ zubreiten/' das ist es, was dem Evangelisch-sozialen Kongreß heute die Daseins¬ berechtigung geben könnte. Will und kann er dazu nicht helfen, dann wird er, wie die Sachen heute liegen, nur schaden, nichts nützen, dann wird „evangelisch-sozial" in Wahrheit zum „Unsinn." Aus unsrer Ostmark (Schluß) 4 le „Gefahr im Osten" ist von der Staatsregierung in ihrem ganzen Umfang erkannt worden; die Erfahrung hat ihr gezeigt, daß auf die Polen und die polnischen Abgeordneten kein Verlaß ist, daß sie sich vor allem nicht in die Phalanx zum Kampf gegen den Umsturz eingliedern lassen wollen, und daß es eher möglich wäre, einen Homunkulus in der Retorte zu erzeugen als das Problem des ..Polnischsprechenden Preußen" zu lösen, der in seiner Sprache Gott und den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 56, 1897, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341865_225585/447>, abgerufen am 01.05.2024.