Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Rede Sinn

mus als Hof- und Kettenhund zu dienen, daß der reiche Mann im Evangelium
gar kein schlechter Mensch, ja sogar ein guter Kerl gewesen sei und in unsrer
Zeit wahrscheinlich einen Sitz im Kirchenrat bekommen hätte. Aber das alles
ist seit achtzehnhundert Jahren millionenmal gesagt worden (wird es zu
manchen Zeiten und an manchen Orten nicht gesagt -- desto schlimmer sür
die Kirche!), und wie es die Entstehung der sozialen Übel unsrer Zeit nicht
hat verhüten können, so kann es sie auch nicht heilen.

Noch gar vieles giebt es in diesem merkwürdigen Tagebuche, was zunächst
zwar den Theologen, dann aber eines den Philosophen, d. h. jeden denkenden
Menschen angeht, aber wenn wir ans das alles eingehn wollten, so würden
wir kein Ende finden. Zum Schluß wollen wir die Hauptdifferenz zwischen
dem Lutheraner und uns aus folgende Weise schlichten. Er sagt II, 32 von
Kant, das Jenseitige, das ihm hätte Erfahrung werden müssen, sei ihm
Einbildung und Fiktion geblieben, "weil er nicht wagte, zu fliegen." Auch
wir -- ich spreche im Namen von Millionen -- wagen nicht zu fliegen, aus
einem sehr guten Grunde: weil wir keine Flügel haben. Wir verachten weder
die Flügelwesen unter den Menschen noch verspotten wir sie; wir schauen
solche mit Ehrfurcht, die behaupten, sich über die Erde erhoben und einen
Blick in den Himmel gethan zu haben, wofern ihre Persönlichkeit und ihr
Leben diese Behauptung uur einigermaßen glaubhaft macht; aber wir können
Won ihnen verlangen, daß sie uns nicht schlechter behandeln, als es unser
Herrgott thut, der uns ohne Flügel geschaffen hat und sich seit der Sünd-
flut (i. Mose 8, 21) unser irdisches Treiben gefallen läßt.




Der Rede ^inn

in Bekannter von mir wurde einst als Mitglied eines Kollegiums
in einer Sitzung interpellirt, wie er das und das gemeint habe,
und antwortete nach kurzem Besinnen: "Nun, ich habe absichtlich
eine gewisse Latitüde gelassen." Das Wort erregte große Heiter¬
keit und ist mir seither oft wieder in den Sinn gekommen.
Daudets Numa Roumestan verspricht als demnüchstiger Abgeordneter dem einen
seiner Provinzgenossen dies, dem andern das und vielen nach einander eme
Tabakstrafik, und als ihn seine gewissenhaftere Frau ängstlich fragt, woher er
denn alle die Trafiken nehmen wolle, meint er: "Beunruhige dich nicht, liebes
Kind, hier im Süden haben alle Worte immer mir einen relativen Sinn."


Der Rede Sinn

mus als Hof- und Kettenhund zu dienen, daß der reiche Mann im Evangelium
gar kein schlechter Mensch, ja sogar ein guter Kerl gewesen sei und in unsrer
Zeit wahrscheinlich einen Sitz im Kirchenrat bekommen hätte. Aber das alles
ist seit achtzehnhundert Jahren millionenmal gesagt worden (wird es zu
manchen Zeiten und an manchen Orten nicht gesagt — desto schlimmer sür
die Kirche!), und wie es die Entstehung der sozialen Übel unsrer Zeit nicht
hat verhüten können, so kann es sie auch nicht heilen.

Noch gar vieles giebt es in diesem merkwürdigen Tagebuche, was zunächst
zwar den Theologen, dann aber eines den Philosophen, d. h. jeden denkenden
Menschen angeht, aber wenn wir ans das alles eingehn wollten, so würden
wir kein Ende finden. Zum Schluß wollen wir die Hauptdifferenz zwischen
dem Lutheraner und uns aus folgende Weise schlichten. Er sagt II, 32 von
Kant, das Jenseitige, das ihm hätte Erfahrung werden müssen, sei ihm
Einbildung und Fiktion geblieben, „weil er nicht wagte, zu fliegen." Auch
wir — ich spreche im Namen von Millionen — wagen nicht zu fliegen, aus
einem sehr guten Grunde: weil wir keine Flügel haben. Wir verachten weder
die Flügelwesen unter den Menschen noch verspotten wir sie; wir schauen
solche mit Ehrfurcht, die behaupten, sich über die Erde erhoben und einen
Blick in den Himmel gethan zu haben, wofern ihre Persönlichkeit und ihr
Leben diese Behauptung uur einigermaßen glaubhaft macht; aber wir können
Won ihnen verlangen, daß sie uns nicht schlechter behandeln, als es unser
Herrgott thut, der uns ohne Flügel geschaffen hat und sich seit der Sünd-
flut (i. Mose 8, 21) unser irdisches Treiben gefallen läßt.




Der Rede ^inn

in Bekannter von mir wurde einst als Mitglied eines Kollegiums
in einer Sitzung interpellirt, wie er das und das gemeint habe,
und antwortete nach kurzem Besinnen: „Nun, ich habe absichtlich
eine gewisse Latitüde gelassen." Das Wort erregte große Heiter¬
keit und ist mir seither oft wieder in den Sinn gekommen.
Daudets Numa Roumestan verspricht als demnüchstiger Abgeordneter dem einen
seiner Provinzgenossen dies, dem andern das und vielen nach einander eme
Tabakstrafik, und als ihn seine gewissenhaftere Frau ängstlich fragt, woher er
denn alle die Trafiken nehmen wolle, meint er: „Beunruhige dich nicht, liebes
Kind, hier im Süden haben alle Worte immer mir einen relativen Sinn."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0111" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/229059"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Rede Sinn</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_226" prev="#ID_225"> mus als Hof- und Kettenhund zu dienen, daß der reiche Mann im Evangelium<lb/>
gar kein schlechter Mensch, ja sogar ein guter Kerl gewesen sei und in unsrer<lb/>
Zeit wahrscheinlich einen Sitz im Kirchenrat bekommen hätte. Aber das alles<lb/>
ist seit achtzehnhundert Jahren millionenmal gesagt worden (wird es zu<lb/>
manchen Zeiten und an manchen Orten nicht gesagt &#x2014; desto schlimmer sür<lb/>
die Kirche!), und wie es die Entstehung der sozialen Übel unsrer Zeit nicht<lb/>
hat verhüten können, so kann es sie auch nicht heilen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_227"> Noch gar vieles giebt es in diesem merkwürdigen Tagebuche, was zunächst<lb/>
zwar den Theologen, dann aber eines den Philosophen, d. h. jeden denkenden<lb/>
Menschen angeht, aber wenn wir ans das alles eingehn wollten, so würden<lb/>
wir kein Ende finden. Zum Schluß wollen wir die Hauptdifferenz zwischen<lb/>
dem Lutheraner und uns aus folgende Weise schlichten. Er sagt II, 32 von<lb/>
Kant, das Jenseitige, das ihm hätte Erfahrung werden müssen, sei ihm<lb/>
Einbildung und Fiktion geblieben, &#x201E;weil er nicht wagte, zu fliegen." Auch<lb/>
wir &#x2014; ich spreche im Namen von Millionen &#x2014; wagen nicht zu fliegen, aus<lb/>
einem sehr guten Grunde: weil wir keine Flügel haben. Wir verachten weder<lb/>
die Flügelwesen unter den Menschen noch verspotten wir sie; wir schauen<lb/>
solche mit Ehrfurcht, die behaupten, sich über die Erde erhoben und einen<lb/>
Blick in den Himmel gethan zu haben, wofern ihre Persönlichkeit und ihr<lb/>
Leben diese Behauptung uur einigermaßen glaubhaft macht; aber wir können<lb/>
Won ihnen verlangen, daß sie uns nicht schlechter behandeln, als es unser<lb/>
Herrgott thut, der uns ohne Flügel geschaffen hat und sich seit der Sünd-<lb/>
flut (i. Mose 8, 21) unser irdisches Treiben gefallen läßt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der Rede ^inn</head><lb/>
          <p xml:id="ID_228" next="#ID_229"> in Bekannter von mir wurde einst als Mitglied eines Kollegiums<lb/>
in einer Sitzung interpellirt, wie er das und das gemeint habe,<lb/>
und antwortete nach kurzem Besinnen: &#x201E;Nun, ich habe absichtlich<lb/>
eine gewisse Latitüde gelassen." Das Wort erregte große Heiter¬<lb/>
keit und ist mir seither oft wieder in den Sinn gekommen.<lb/>
Daudets Numa Roumestan verspricht als demnüchstiger Abgeordneter dem einen<lb/>
seiner Provinzgenossen dies, dem andern das und vielen nach einander eme<lb/>
Tabakstrafik, und als ihn seine gewissenhaftere Frau ängstlich fragt, woher er<lb/>
denn alle die Trafiken nehmen wolle, meint er: &#x201E;Beunruhige dich nicht, liebes<lb/>
Kind, hier im Süden haben alle Worte immer mir einen relativen Sinn."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0111] Der Rede Sinn mus als Hof- und Kettenhund zu dienen, daß der reiche Mann im Evangelium gar kein schlechter Mensch, ja sogar ein guter Kerl gewesen sei und in unsrer Zeit wahrscheinlich einen Sitz im Kirchenrat bekommen hätte. Aber das alles ist seit achtzehnhundert Jahren millionenmal gesagt worden (wird es zu manchen Zeiten und an manchen Orten nicht gesagt — desto schlimmer sür die Kirche!), und wie es die Entstehung der sozialen Übel unsrer Zeit nicht hat verhüten können, so kann es sie auch nicht heilen. Noch gar vieles giebt es in diesem merkwürdigen Tagebuche, was zunächst zwar den Theologen, dann aber eines den Philosophen, d. h. jeden denkenden Menschen angeht, aber wenn wir ans das alles eingehn wollten, so würden wir kein Ende finden. Zum Schluß wollen wir die Hauptdifferenz zwischen dem Lutheraner und uns aus folgende Weise schlichten. Er sagt II, 32 von Kant, das Jenseitige, das ihm hätte Erfahrung werden müssen, sei ihm Einbildung und Fiktion geblieben, „weil er nicht wagte, zu fliegen." Auch wir — ich spreche im Namen von Millionen — wagen nicht zu fliegen, aus einem sehr guten Grunde: weil wir keine Flügel haben. Wir verachten weder die Flügelwesen unter den Menschen noch verspotten wir sie; wir schauen solche mit Ehrfurcht, die behaupten, sich über die Erde erhoben und einen Blick in den Himmel gethan zu haben, wofern ihre Persönlichkeit und ihr Leben diese Behauptung uur einigermaßen glaubhaft macht; aber wir können Won ihnen verlangen, daß sie uns nicht schlechter behandeln, als es unser Herrgott thut, der uns ohne Flügel geschaffen hat und sich seit der Sünd- flut (i. Mose 8, 21) unser irdisches Treiben gefallen läßt. Der Rede ^inn in Bekannter von mir wurde einst als Mitglied eines Kollegiums in einer Sitzung interpellirt, wie er das und das gemeint habe, und antwortete nach kurzem Besinnen: „Nun, ich habe absichtlich eine gewisse Latitüde gelassen." Das Wort erregte große Heiter¬ keit und ist mir seither oft wieder in den Sinn gekommen. Daudets Numa Roumestan verspricht als demnüchstiger Abgeordneter dem einen seiner Provinzgenossen dies, dem andern das und vielen nach einander eme Tabakstrafik, und als ihn seine gewissenhaftere Frau ängstlich fragt, woher er denn alle die Trafiken nehmen wolle, meint er: „Beunruhige dich nicht, liebes Kind, hier im Süden haben alle Worte immer mir einen relativen Sinn."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/111
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 57, 1898, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341867_228947/111>, abgerufen am 01.05.2024.