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Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr.

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Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

483

haft Kulturelemente, die absichtlich, aus Furcht vor liberalen Strömungen
niedergehalten lverden. Sobald sich für diese ein weiteres Thätigkeitsfeld bieten
wird, kann für Rußland ein gewaltiger Kulturumschwung eintreten, dem die
Ostseeprovinzen in kürzester Zeit unterliegen müßten.


Schlußwort

Mit den geschilderten Verhältnissen muß mau rechnen, wenn man zur
baltischen Frage Stellung nimmt und sie objektiv beurteilen will. Es tritt
dann an jeden einzelnen Ballen die Frage heran, wie er zu handeln habe, um
sein Geschick und das seiner Kinder und Kindeskinder in einer befriedigenden
Weise zu gestalten. Unzweifelhaft giebt es in den baltischen Proviuze" auch
unter den Deutschbalteu Opportunisten, die sich mit dem Gedanken an eine
organische Verschmelzung mit dein russischen Volke ausgesöhnt haben und den
Nussifizierungsbestrebungen entgegenkommen. Ihre Zahl dürfte aber nicht groß
sein und rekrutiert sich wohl mehr aus der Zahl der Leute, die in das Innere
des Reichs gegangen und auch innerlich von der baltischen Heimat gelöst sind.
Diese haben ihren festen Standpunkt und sind für das deutsche Baltentum
und für das Deutschtum im allgemeinen verloren. Wir wollen sie deshalb
nicht verurteilen.

Bei einer zweiten, weit größern Gruppe von Deutschbalten haben aber
die Gewaltmaßregeln der russischen Regierung die grvßdeutschen Gefühle zum
Erwachen gebracht, und diese sind nun ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation
völlig bewußt, wenn sie auch vor der Zeit der Reformen rein baltisch dachten.
Diese versteh" nnter dem Begriffe Heimat nicht sowohl die Scholle, an der
sie haften, als vielmehr Sprache, Bildung und Institutionen: werden ihnen
diese genommen, so wird ihnen auch die Heimat genommen. Diese wären
gern bereit, die Scholle zu verlassen, um sich und ihren Nachkommen die
deutsche Nationalität zu bewahren, die sie für eins der teuersten Güter halten.
Viele von diesen, die die Mittel dazu hatten, sind schon nach Deutschland
ausgewandert, oder in andre Länder, wo ihnen die Erhaltung der Nationalität
besser gewährleistet ist; nicht wenige stehn auch so, daß sie lieber in jede
andre europäische Nation aufgehn wollen, als in die russische. Viele weniger
glückliche Gesinnungsgenossen sind notgedrungen in Rußland oder den Ostsee-
Provinzen zurückgeblieben und würden jede sich ihnen bietende Gelegenheit der
Auswandrung mit Freuden begrüßen.

Die augenblicklichen Verhältnisse in Rußland sind nun thatsächlich so,
daß es auch für einen Kosmopoliten gerade kein erhebender Gedanke sein
dürfte, sich einem Volke anzuschließen, das einen, hoffen wir kurzdauernden,
Rückschritt in der Kultur durchmacht. Die überall sich breiter machende
Satrapenwirtschaft, ein Protektionssystem, das jede freie Konkurrenz hindert,
die auf eine mangelhafte Verwaltung zurückzuführenden chronischen Hungersnöte,


Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung

483

haft Kulturelemente, die absichtlich, aus Furcht vor liberalen Strömungen
niedergehalten lverden. Sobald sich für diese ein weiteres Thätigkeitsfeld bieten
wird, kann für Rußland ein gewaltiger Kulturumschwung eintreten, dem die
Ostseeprovinzen in kürzester Zeit unterliegen müßten.


Schlußwort

Mit den geschilderten Verhältnissen muß mau rechnen, wenn man zur
baltischen Frage Stellung nimmt und sie objektiv beurteilen will. Es tritt
dann an jeden einzelnen Ballen die Frage heran, wie er zu handeln habe, um
sein Geschick und das seiner Kinder und Kindeskinder in einer befriedigenden
Weise zu gestalten. Unzweifelhaft giebt es in den baltischen Proviuze» auch
unter den Deutschbalteu Opportunisten, die sich mit dem Gedanken an eine
organische Verschmelzung mit dein russischen Volke ausgesöhnt haben und den
Nussifizierungsbestrebungen entgegenkommen. Ihre Zahl dürfte aber nicht groß
sein und rekrutiert sich wohl mehr aus der Zahl der Leute, die in das Innere
des Reichs gegangen und auch innerlich von der baltischen Heimat gelöst sind.
Diese haben ihren festen Standpunkt und sind für das deutsche Baltentum
und für das Deutschtum im allgemeinen verloren. Wir wollen sie deshalb
nicht verurteilen.

Bei einer zweiten, weit größern Gruppe von Deutschbalten haben aber
die Gewaltmaßregeln der russischen Regierung die grvßdeutschen Gefühle zum
Erwachen gebracht, und diese sind nun ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation
völlig bewußt, wenn sie auch vor der Zeit der Reformen rein baltisch dachten.
Diese versteh» nnter dem Begriffe Heimat nicht sowohl die Scholle, an der
sie haften, als vielmehr Sprache, Bildung und Institutionen: werden ihnen
diese genommen, so wird ihnen auch die Heimat genommen. Diese wären
gern bereit, die Scholle zu verlassen, um sich und ihren Nachkommen die
deutsche Nationalität zu bewahren, die sie für eins der teuersten Güter halten.
Viele von diesen, die die Mittel dazu hatten, sind schon nach Deutschland
ausgewandert, oder in andre Länder, wo ihnen die Erhaltung der Nationalität
besser gewährleistet ist; nicht wenige stehn auch so, daß sie lieber in jede
andre europäische Nation aufgehn wollen, als in die russische. Viele weniger
glückliche Gesinnungsgenossen sind notgedrungen in Rußland oder den Ostsee-
Provinzen zurückgeblieben und würden jede sich ihnen bietende Gelegenheit der
Auswandrung mit Freuden begrüßen.

Die augenblicklichen Verhältnisse in Rußland sind nun thatsächlich so,
daß es auch für einen Kosmopoliten gerade kein erhebender Gedanke sein
dürfte, sich einem Volke anzuschließen, das einen, hoffen wir kurzdauernden,
Rückschritt in der Kultur durchmacht. Die überall sich breiter machende
Satrapenwirtschaft, ein Protektionssystem, das jede freie Konkurrenz hindert,
die auf eine mangelhafte Verwaltung zurückzuführenden chronischen Hungersnöte,


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[0497] Zur baltischen Frage und zu ihrer Lösung 483 haft Kulturelemente, die absichtlich, aus Furcht vor liberalen Strömungen niedergehalten lverden. Sobald sich für diese ein weiteres Thätigkeitsfeld bieten wird, kann für Rußland ein gewaltiger Kulturumschwung eintreten, dem die Ostseeprovinzen in kürzester Zeit unterliegen müßten. Schlußwort Mit den geschilderten Verhältnissen muß mau rechnen, wenn man zur baltischen Frage Stellung nimmt und sie objektiv beurteilen will. Es tritt dann an jeden einzelnen Ballen die Frage heran, wie er zu handeln habe, um sein Geschick und das seiner Kinder und Kindeskinder in einer befriedigenden Weise zu gestalten. Unzweifelhaft giebt es in den baltischen Proviuze» auch unter den Deutschbalteu Opportunisten, die sich mit dem Gedanken an eine organische Verschmelzung mit dein russischen Volke ausgesöhnt haben und den Nussifizierungsbestrebungen entgegenkommen. Ihre Zahl dürfte aber nicht groß sein und rekrutiert sich wohl mehr aus der Zahl der Leute, die in das Innere des Reichs gegangen und auch innerlich von der baltischen Heimat gelöst sind. Diese haben ihren festen Standpunkt und sind für das deutsche Baltentum und für das Deutschtum im allgemeinen verloren. Wir wollen sie deshalb nicht verurteilen. Bei einer zweiten, weit größern Gruppe von Deutschbalten haben aber die Gewaltmaßregeln der russischen Regierung die grvßdeutschen Gefühle zum Erwachen gebracht, und diese sind nun ihrer Zugehörigkeit zur deutschen Nation völlig bewußt, wenn sie auch vor der Zeit der Reformen rein baltisch dachten. Diese versteh» nnter dem Begriffe Heimat nicht sowohl die Scholle, an der sie haften, als vielmehr Sprache, Bildung und Institutionen: werden ihnen diese genommen, so wird ihnen auch die Heimat genommen. Diese wären gern bereit, die Scholle zu verlassen, um sich und ihren Nachkommen die deutsche Nationalität zu bewahren, die sie für eins der teuersten Güter halten. Viele von diesen, die die Mittel dazu hatten, sind schon nach Deutschland ausgewandert, oder in andre Länder, wo ihnen die Erhaltung der Nationalität besser gewährleistet ist; nicht wenige stehn auch so, daß sie lieber in jede andre europäische Nation aufgehn wollen, als in die russische. Viele weniger glückliche Gesinnungsgenossen sind notgedrungen in Rußland oder den Ostsee- Provinzen zurückgeblieben und würden jede sich ihnen bietende Gelegenheit der Auswandrung mit Freuden begrüßen. Die augenblicklichen Verhältnisse in Rußland sind nun thatsächlich so, daß es auch für einen Kosmopoliten gerade kein erhebender Gedanke sein dürfte, sich einem Volke anzuschließen, das einen, hoffen wir kurzdauernden, Rückschritt in der Kultur durchmacht. Die überall sich breiter machende Satrapenwirtschaft, ein Protektionssystem, das jede freie Konkurrenz hindert, die auf eine mangelhafte Verwaltung zurückzuführenden chronischen Hungersnöte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 58, 1899, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341869_231811/497>, abgerufen am 07.05.2024.