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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

zeitsquelle in Kana, Beide Brunnen sollen nach dem Glauben der Bevölke-
rung unterirdisch zusammenhangen und ihr Wasser aus einer und derselben
Quelle erhalten. Das ist bei dem schlottenhaften Kalkgebirge, aus dem das
Wasser entspringt, sehr wohl möglich. Hinter der Marienkirche zeigte man
uns die Kirche der Verkündigung. Sie ist dreischiffig, macht einen guten Ein¬
druck und gehört den Lateinern. Als wir eintraten, wurde gerade eine Schul-
messe gehalten. Sechzig bis achtzig anscheinend arabische Kinder saßen mit
untergeschlagnen Beinen in regelmäßigen Reihen auf den Fliesen des Fu߬
bodens und sangen die lateinischen Responsorien, alles sehr wohl geordnet, die
Kinder gesittet und mit andächtiger Aufmerksamkeit dem zelebrierenden Priester
folgend, ein besondrer und -- ich kann nur sagen -- wohlthuender Anblick.
Am Altar der Verkündigung stand in goldnen Lettern der Spruch: Hio vsrduin
og.ro kiroruin v8t, hier ward das Wort Fleisch, sehr sinnig und erbaulich, sofern
die Stelle echt ist. Hier soll -- getrennt von der Werkstatt -- das Wohn¬
haus von Joseph und Maria gestanden haben. Merkwürdig auch hier, daß
ungeachtet der starken Zweifel über die Identität des Orts doch der Gedanken¬
kreis, der sich unwillkürlich um die Tradition anknüpft, etwas herzbewegendes,
ich möchte fast sagen bestrickendes hat. Der Ort ist eben nicht das entscheidende:
aber es ist nützlich, gerade an diesen heiligen Orten der Tradition nüchtern
und wachsam zu bleiben und sich vor Sentimentalität und mißgläubiger Un¬
klarheit zu hüten. Vor Nazareth hatten wir auch diesesmal wieder den schön
geformten Berg Tabor gesehen, auf dem eine kleine Zahl unsrer berittnen Mit¬
pilger in voriger Nacht bei den dortigen lateinischen Mönchen eine ungemein
herzliche Gastlichkeit genossen hatte.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Englische Schulfrüchte.

Unsre durch dus 31. Heft der Grenzboten tief
gekränkten höhern Töchter werden sich trösten, wenn sie -- sie versteh" ja alle
Englisch -- in der SawräsF Loviov vom 4. August den Artikel "Prüfungsfrüchte"
lesen. Es sind fünfunddreiszig (wenn wir richtig gezählt haben) Antworten und
Aufsatzstücke und einige Übersetzungsproben aus den letzten Prüfungen, die den Akten
von Schulen und Militärbehörden entnommen sind, und von denen einige in der
Aufnahmeprüfung der Universitäten, die also unserm Abiturientenexamen entsprechen
muß, vorgekommen sind. Eine kleine Auslese hat sich die Frankfurter Zeitung aus London
schicken lassen, wir wählen drei andre aus und versichern, daß die übrigen zweiunddreißig
auf derselben Höhe der Wissenschaftlichkeit und Exaktheit stehn. "Der Reichstag
von Worms, das sind die Insektenlarven (Mo Oise ot >Va>ruf is et>g ^rubs), die
von Amseln und Drosseln gefressen werden, und die unsre Ernte auffressen würden,
wenn man sie leben ließe. Ein Gärtner handelt nicht sehr weise, wenn er die
Vögel wegschießt und ihre Nester und Eier zerstört." Der Lehrer hat den Jungen
ohne Zweifel erzählt, wie Luther zu Koburg die Beratungen des Augsburger Reichs¬
tags mit dem Lärm der Dohlen vor seinem Fenster verglichen hat. "William


Maßgebliches und Unmaßgebliches

zeitsquelle in Kana, Beide Brunnen sollen nach dem Glauben der Bevölke-
rung unterirdisch zusammenhangen und ihr Wasser aus einer und derselben
Quelle erhalten. Das ist bei dem schlottenhaften Kalkgebirge, aus dem das
Wasser entspringt, sehr wohl möglich. Hinter der Marienkirche zeigte man
uns die Kirche der Verkündigung. Sie ist dreischiffig, macht einen guten Ein¬
druck und gehört den Lateinern. Als wir eintraten, wurde gerade eine Schul-
messe gehalten. Sechzig bis achtzig anscheinend arabische Kinder saßen mit
untergeschlagnen Beinen in regelmäßigen Reihen auf den Fliesen des Fu߬
bodens und sangen die lateinischen Responsorien, alles sehr wohl geordnet, die
Kinder gesittet und mit andächtiger Aufmerksamkeit dem zelebrierenden Priester
folgend, ein besondrer und — ich kann nur sagen — wohlthuender Anblick.
Am Altar der Verkündigung stand in goldnen Lettern der Spruch: Hio vsrduin
og.ro kiroruin v8t, hier ward das Wort Fleisch, sehr sinnig und erbaulich, sofern
die Stelle echt ist. Hier soll — getrennt von der Werkstatt — das Wohn¬
haus von Joseph und Maria gestanden haben. Merkwürdig auch hier, daß
ungeachtet der starken Zweifel über die Identität des Orts doch der Gedanken¬
kreis, der sich unwillkürlich um die Tradition anknüpft, etwas herzbewegendes,
ich möchte fast sagen bestrickendes hat. Der Ort ist eben nicht das entscheidende:
aber es ist nützlich, gerade an diesen heiligen Orten der Tradition nüchtern
und wachsam zu bleiben und sich vor Sentimentalität und mißgläubiger Un¬
klarheit zu hüten. Vor Nazareth hatten wir auch diesesmal wieder den schön
geformten Berg Tabor gesehen, auf dem eine kleine Zahl unsrer berittnen Mit¬
pilger in voriger Nacht bei den dortigen lateinischen Mönchen eine ungemein
herzliche Gastlichkeit genossen hatte.

(Fortsetzung folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Englische Schulfrüchte.

Unsre durch dus 31. Heft der Grenzboten tief
gekränkten höhern Töchter werden sich trösten, wenn sie — sie versteh» ja alle
Englisch — in der SawräsF Loviov vom 4. August den Artikel „Prüfungsfrüchte"
lesen. Es sind fünfunddreiszig (wenn wir richtig gezählt haben) Antworten und
Aufsatzstücke und einige Übersetzungsproben aus den letzten Prüfungen, die den Akten
von Schulen und Militärbehörden entnommen sind, und von denen einige in der
Aufnahmeprüfung der Universitäten, die also unserm Abiturientenexamen entsprechen
muß, vorgekommen sind. Eine kleine Auslese hat sich die Frankfurter Zeitung aus London
schicken lassen, wir wählen drei andre aus und versichern, daß die übrigen zweiunddreißig
auf derselben Höhe der Wissenschaftlichkeit und Exaktheit stehn. „Der Reichstag
von Worms, das sind die Insektenlarven (Mo Oise ot >Va>ruf is et>g ^rubs), die
von Amseln und Drosseln gefressen werden, und die unsre Ernte auffressen würden,
wenn man sie leben ließe. Ein Gärtner handelt nicht sehr weise, wenn er die
Vögel wegschießt und ihre Nester und Eier zerstört." Der Lehrer hat den Jungen
ohne Zweifel erzählt, wie Luther zu Koburg die Beratungen des Augsburger Reichs¬
tags mit dem Lärm der Dohlen vor seinem Fenster verglichen hat. „William


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[0486] Maßgebliches und Unmaßgebliches zeitsquelle in Kana, Beide Brunnen sollen nach dem Glauben der Bevölke- rung unterirdisch zusammenhangen und ihr Wasser aus einer und derselben Quelle erhalten. Das ist bei dem schlottenhaften Kalkgebirge, aus dem das Wasser entspringt, sehr wohl möglich. Hinter der Marienkirche zeigte man uns die Kirche der Verkündigung. Sie ist dreischiffig, macht einen guten Ein¬ druck und gehört den Lateinern. Als wir eintraten, wurde gerade eine Schul- messe gehalten. Sechzig bis achtzig anscheinend arabische Kinder saßen mit untergeschlagnen Beinen in regelmäßigen Reihen auf den Fliesen des Fu߬ bodens und sangen die lateinischen Responsorien, alles sehr wohl geordnet, die Kinder gesittet und mit andächtiger Aufmerksamkeit dem zelebrierenden Priester folgend, ein besondrer und — ich kann nur sagen — wohlthuender Anblick. Am Altar der Verkündigung stand in goldnen Lettern der Spruch: Hio vsrduin og.ro kiroruin v8t, hier ward das Wort Fleisch, sehr sinnig und erbaulich, sofern die Stelle echt ist. Hier soll — getrennt von der Werkstatt — das Wohn¬ haus von Joseph und Maria gestanden haben. Merkwürdig auch hier, daß ungeachtet der starken Zweifel über die Identität des Orts doch der Gedanken¬ kreis, der sich unwillkürlich um die Tradition anknüpft, etwas herzbewegendes, ich möchte fast sagen bestrickendes hat. Der Ort ist eben nicht das entscheidende: aber es ist nützlich, gerade an diesen heiligen Orten der Tradition nüchtern und wachsam zu bleiben und sich vor Sentimentalität und mißgläubiger Un¬ klarheit zu hüten. Vor Nazareth hatten wir auch diesesmal wieder den schön geformten Berg Tabor gesehen, auf dem eine kleine Zahl unsrer berittnen Mit¬ pilger in voriger Nacht bei den dortigen lateinischen Mönchen eine ungemein herzliche Gastlichkeit genossen hatte. (Fortsetzung folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Englische Schulfrüchte. Unsre durch dus 31. Heft der Grenzboten tief gekränkten höhern Töchter werden sich trösten, wenn sie — sie versteh» ja alle Englisch — in der SawräsF Loviov vom 4. August den Artikel „Prüfungsfrüchte" lesen. Es sind fünfunddreiszig (wenn wir richtig gezählt haben) Antworten und Aufsatzstücke und einige Übersetzungsproben aus den letzten Prüfungen, die den Akten von Schulen und Militärbehörden entnommen sind, und von denen einige in der Aufnahmeprüfung der Universitäten, die also unserm Abiturientenexamen entsprechen muß, vorgekommen sind. Eine kleine Auslese hat sich die Frankfurter Zeitung aus London schicken lassen, wir wählen drei andre aus und versichern, daß die übrigen zweiunddreißig auf derselben Höhe der Wissenschaftlichkeit und Exaktheit stehn. „Der Reichstag von Worms, das sind die Insektenlarven (Mo Oise ot >Va>ruf is et>g ^rubs), die von Amseln und Drosseln gefressen werden, und die unsre Ernte auffressen würden, wenn man sie leben ließe. Ein Gärtner handelt nicht sehr weise, wenn er die Vögel wegschießt und ihre Nester und Eier zerstört." Der Lehrer hat den Jungen ohne Zweifel erzählt, wie Luther zu Koburg die Beratungen des Augsburger Reichs¬ tags mit dem Lärm der Dohlen vor seinem Fenster verglichen hat. „William

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_233233/486>, abgerufen am 03.05.2024.