Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

und thöricht genug, zu glauben, daß sie auf die Dauer die Massen mit Gewalt
würden abhalten können, nachdem sie die Massen erst gelehrt hätten, daß
Lebensgenuß das Ziel des Lebens sei. Es ist eine geschichtliche Erfahrung,
daß die Lebensanschauung der untern Stände sich nach derjenigen der obern
modelt. Auch wenn man die in neuerlichen Schandprozessen aufgedeckte Ver¬
sumpfung nicht pharisäisch der ganzen Gesellschaftsklasse zur Last legt, muß es
darum mit Sorge erfüllen, daß in gewissen obern Kreisen Englands der Lebens¬
genuß zum Lebenszweck erhoben und im eitelsten und üppigsten Wohlleben der
über alles begehrte Reichtum sinnlos vergeudet, das "Vermögen" nicht nach
Gebühr geschätzt, sondern entwürdigt wird. Die Frage ist: Werden die be¬
sitzenden Stände die Führer bleiben, nachdem sie aufgehört haben, die Herren
zu sein? Nur was wir sind, werden wir behalten. Es ist Sinn und Ge¬
rechtigkeit im Leben der Völker."




Aus der Wertherzeit

er bescheidne Anteil, der in der Geschichte des deutschen Geistes¬
lebens der Freifrau Elisa von der Recke, gebornen von Medem,
zukommt, beschränkt sich im Grunde auf die langjährigen Reisen,
die sie seit 1784 unternahm, darauf bedacht, mit allen Be¬
rühmtheiten unsrer Litteratur anzuknüpfen, und auf den stillen
Lebensabend, den sie als fromme Weltdame an der Seite Tiedges, des
Sängers der Urania, in Dresden verlebte. Die Schriften, die sie selbst ver¬
öffentlicht hat, sind vergessen. Gehört sie im ganzen der empfindsamen, rühr¬
seligen und schreibseligen Epoche unsrer Litteratur an, so ist durch ihre Bio¬
graphen, die nur die alternde Dame kannten, ihr Bild vollends in ein erhaben
Pathetisches, tugendstrahleudes Licht gerückt worden. Von ihrer Jugend¬
geschichte ist wenig bekannt geworden. Diese Lücke füllt jetzt ein sorgfältig
bearbeitetes Buch aus,*) das im wesentlichen aus einer bisher ungedruckten
Selbstbiographie und, daran anschließend, aus Briefen an eine vertraute
Freundin besteht, die aber zusammen nur bis zum Jahre 1778, d. h. bis zum
vierundzwanzigsten Lebensjahr Elisas reichen, also ihre Kindheit, Jugend und
ihre unglückliche Ehe bis nahe an deren Scheidung umfassen. Schon die
baltischen Kulturzustände, die den Hintergrund dieser Bekenntnisse ausmachen,
sind merkwürdig genng. Die Familienverhältnisse, unter denen Elisa auf-



*) Elisa von der Recke. Aufzeichnungen und Briefe aus ihren Jugendtagen. Heraus¬
gegeben von Paul Rachel. Mit 11 Abbildungen. Leipzig, Dieterich.

und thöricht genug, zu glauben, daß sie auf die Dauer die Massen mit Gewalt
würden abhalten können, nachdem sie die Massen erst gelehrt hätten, daß
Lebensgenuß das Ziel des Lebens sei. Es ist eine geschichtliche Erfahrung,
daß die Lebensanschauung der untern Stände sich nach derjenigen der obern
modelt. Auch wenn man die in neuerlichen Schandprozessen aufgedeckte Ver¬
sumpfung nicht pharisäisch der ganzen Gesellschaftsklasse zur Last legt, muß es
darum mit Sorge erfüllen, daß in gewissen obern Kreisen Englands der Lebens¬
genuß zum Lebenszweck erhoben und im eitelsten und üppigsten Wohlleben der
über alles begehrte Reichtum sinnlos vergeudet, das »Vermögen« nicht nach
Gebühr geschätzt, sondern entwürdigt wird. Die Frage ist: Werden die be¬
sitzenden Stände die Führer bleiben, nachdem sie aufgehört haben, die Herren
zu sein? Nur was wir sind, werden wir behalten. Es ist Sinn und Ge¬
rechtigkeit im Leben der Völker."




Aus der Wertherzeit

er bescheidne Anteil, der in der Geschichte des deutschen Geistes¬
lebens der Freifrau Elisa von der Recke, gebornen von Medem,
zukommt, beschränkt sich im Grunde auf die langjährigen Reisen,
die sie seit 1784 unternahm, darauf bedacht, mit allen Be¬
rühmtheiten unsrer Litteratur anzuknüpfen, und auf den stillen
Lebensabend, den sie als fromme Weltdame an der Seite Tiedges, des
Sängers der Urania, in Dresden verlebte. Die Schriften, die sie selbst ver¬
öffentlicht hat, sind vergessen. Gehört sie im ganzen der empfindsamen, rühr¬
seligen und schreibseligen Epoche unsrer Litteratur an, so ist durch ihre Bio¬
graphen, die nur die alternde Dame kannten, ihr Bild vollends in ein erhaben
Pathetisches, tugendstrahleudes Licht gerückt worden. Von ihrer Jugend¬
geschichte ist wenig bekannt geworden. Diese Lücke füllt jetzt ein sorgfältig
bearbeitetes Buch aus,*) das im wesentlichen aus einer bisher ungedruckten
Selbstbiographie und, daran anschließend, aus Briefen an eine vertraute
Freundin besteht, die aber zusammen nur bis zum Jahre 1778, d. h. bis zum
vierundzwanzigsten Lebensjahr Elisas reichen, also ihre Kindheit, Jugend und
ihre unglückliche Ehe bis nahe an deren Scheidung umfassen. Schon die
baltischen Kulturzustände, die den Hintergrund dieser Bekenntnisse ausmachen,
sind merkwürdig genng. Die Familienverhältnisse, unter denen Elisa auf-



*) Elisa von der Recke. Aufzeichnungen und Briefe aus ihren Jugendtagen. Heraus¬
gegeben von Paul Rachel. Mit 11 Abbildungen. Leipzig, Dieterich.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0457" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/291534"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1510" prev="#ID_1509"> und thöricht genug, zu glauben, daß sie auf die Dauer die Massen mit Gewalt<lb/>
würden abhalten können, nachdem sie die Massen erst gelehrt hätten, daß<lb/>
Lebensgenuß das Ziel des Lebens sei. Es ist eine geschichtliche Erfahrung,<lb/>
daß die Lebensanschauung der untern Stände sich nach derjenigen der obern<lb/>
modelt. Auch wenn man die in neuerlichen Schandprozessen aufgedeckte Ver¬<lb/>
sumpfung nicht pharisäisch der ganzen Gesellschaftsklasse zur Last legt, muß es<lb/>
darum mit Sorge erfüllen, daß in gewissen obern Kreisen Englands der Lebens¬<lb/>
genuß zum Lebenszweck erhoben und im eitelsten und üppigsten Wohlleben der<lb/>
über alles begehrte Reichtum sinnlos vergeudet, das »Vermögen« nicht nach<lb/>
Gebühr geschätzt, sondern entwürdigt wird. Die Frage ist: Werden die be¬<lb/>
sitzenden Stände die Führer bleiben, nachdem sie aufgehört haben, die Herren<lb/>
zu sein? Nur was wir sind, werden wir behalten. Es ist Sinn und Ge¬<lb/>
rechtigkeit im Leben der Völker."</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Aus der Wertherzeit</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1511" next="#ID_1512"> er bescheidne Anteil, der in der Geschichte des deutschen Geistes¬<lb/>
lebens der Freifrau Elisa von der Recke, gebornen von Medem,<lb/>
zukommt, beschränkt sich im Grunde auf die langjährigen Reisen,<lb/>
die sie seit 1784 unternahm, darauf bedacht, mit allen Be¬<lb/>
rühmtheiten unsrer Litteratur anzuknüpfen, und auf den stillen<lb/>
Lebensabend, den sie als fromme Weltdame an der Seite Tiedges, des<lb/>
Sängers der Urania, in Dresden verlebte. Die Schriften, die sie selbst ver¬<lb/>
öffentlicht hat, sind vergessen. Gehört sie im ganzen der empfindsamen, rühr¬<lb/>
seligen und schreibseligen Epoche unsrer Litteratur an, so ist durch ihre Bio¬<lb/>
graphen, die nur die alternde Dame kannten, ihr Bild vollends in ein erhaben<lb/>
Pathetisches, tugendstrahleudes Licht gerückt worden. Von ihrer Jugend¬<lb/>
geschichte ist wenig bekannt geworden. Diese Lücke füllt jetzt ein sorgfältig<lb/>
bearbeitetes Buch aus,*) das im wesentlichen aus einer bisher ungedruckten<lb/>
Selbstbiographie und, daran anschließend, aus Briefen an eine vertraute<lb/>
Freundin besteht, die aber zusammen nur bis zum Jahre 1778, d. h. bis zum<lb/>
vierundzwanzigsten Lebensjahr Elisas reichen, also ihre Kindheit, Jugend und<lb/>
ihre unglückliche Ehe bis nahe an deren Scheidung umfassen. Schon die<lb/>
baltischen Kulturzustände, die den Hintergrund dieser Bekenntnisse ausmachen,<lb/>
sind merkwürdig genng.  Die Familienverhältnisse, unter denen Elisa auf-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_49" place="foot"> *) Elisa von der Recke. Aufzeichnungen und Briefe aus ihren Jugendtagen. Heraus¬<lb/>
gegeben von Paul Rachel. Mit 11 Abbildungen. Leipzig, Dieterich.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0457] und thöricht genug, zu glauben, daß sie auf die Dauer die Massen mit Gewalt würden abhalten können, nachdem sie die Massen erst gelehrt hätten, daß Lebensgenuß das Ziel des Lebens sei. Es ist eine geschichtliche Erfahrung, daß die Lebensanschauung der untern Stände sich nach derjenigen der obern modelt. Auch wenn man die in neuerlichen Schandprozessen aufgedeckte Ver¬ sumpfung nicht pharisäisch der ganzen Gesellschaftsklasse zur Last legt, muß es darum mit Sorge erfüllen, daß in gewissen obern Kreisen Englands der Lebens¬ genuß zum Lebenszweck erhoben und im eitelsten und üppigsten Wohlleben der über alles begehrte Reichtum sinnlos vergeudet, das »Vermögen« nicht nach Gebühr geschätzt, sondern entwürdigt wird. Die Frage ist: Werden die be¬ sitzenden Stände die Führer bleiben, nachdem sie aufgehört haben, die Herren zu sein? Nur was wir sind, werden wir behalten. Es ist Sinn und Ge¬ rechtigkeit im Leben der Völker." Aus der Wertherzeit er bescheidne Anteil, der in der Geschichte des deutschen Geistes¬ lebens der Freifrau Elisa von der Recke, gebornen von Medem, zukommt, beschränkt sich im Grunde auf die langjährigen Reisen, die sie seit 1784 unternahm, darauf bedacht, mit allen Be¬ rühmtheiten unsrer Litteratur anzuknüpfen, und auf den stillen Lebensabend, den sie als fromme Weltdame an der Seite Tiedges, des Sängers der Urania, in Dresden verlebte. Die Schriften, die sie selbst ver¬ öffentlicht hat, sind vergessen. Gehört sie im ganzen der empfindsamen, rühr¬ seligen und schreibseligen Epoche unsrer Litteratur an, so ist durch ihre Bio¬ graphen, die nur die alternde Dame kannten, ihr Bild vollends in ein erhaben Pathetisches, tugendstrahleudes Licht gerückt worden. Von ihrer Jugend¬ geschichte ist wenig bekannt geworden. Diese Lücke füllt jetzt ein sorgfältig bearbeitetes Buch aus,*) das im wesentlichen aus einer bisher ungedruckten Selbstbiographie und, daran anschließend, aus Briefen an eine vertraute Freundin besteht, die aber zusammen nur bis zum Jahre 1778, d. h. bis zum vierundzwanzigsten Lebensjahr Elisas reichen, also ihre Kindheit, Jugend und ihre unglückliche Ehe bis nahe an deren Scheidung umfassen. Schon die baltischen Kulturzustände, die den Hintergrund dieser Bekenntnisse ausmachen, sind merkwürdig genng. Die Familienverhältnisse, unter denen Elisa auf- *) Elisa von der Recke. Aufzeichnungen und Briefe aus ihren Jugendtagen. Heraus¬ gegeben von Paul Rachel. Mit 11 Abbildungen. Leipzig, Dieterich.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/457
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/457>, abgerufen am 24.05.2024.