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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Reichskanzler und Reichstag

>er Reichstag hat sich in seiner neuen Session zuerst mit dem
Nachtrag des Reichshaushnltsetats für 1900/01 wegen der Kosten
der Chinaexpedition zu beschäftigen gehabt. Die Verhandlungen
sind in der Tagespresse des In- und des Auslands reichlich be¬
sprochen worden, und in seltner Einmütigkeit hat man den neuen
Reichskanzler zu der Art seines Auftretens und zu dem parlamentarischen Er¬
folg, soweit ein solcher schon vorliegt, beglückwünscht. Unzweideutig lassen diese
Äußerungen der öffentlichen Meinung zweierlei erkennen: erstens, daß in der
Beurteilung unsrer chinesischen Politik Graf Bülow der Wahrheit und der
Vernunft überall, wo nicht grundsätzlich an Lüge oder Unvernunft festgehalten
wird, zu einem glänzenden Siege verholfen hat; und zweitens, daß er den
Reichstag, seine Fraktionen und Mitglieder und seine politisch urteilsfähigen
Wähler überzeugt hat: Wir haben wieder einen Kanzler!

Über die chinesische Politik war nicht viel neues zu sagen: die Wahrheit
war bekannt. Trotzdem sind die Verhandlungen wichtig, denn den Fälschern
mußte endlich von berufenster Seite vor versammelter Volksvertretung in öffent¬
lichem kontradiktatorischem Verfahren ihr Handwerk gelegt werden. Und das
ist geschehn.

Gründlich hat der Reichskanzler dem mit der größten Zähigkeit immer
wieder aufgetischten Unsinn den Garaus gemacht, daß das Deutsche Reich
durch seine Festsetzung in Kiautschou die heutigen Wirren in China verschuldet
habe. Warum, so fragte er in seiner ersten Rede am 19. November, solle
denn die Verpachtung dieses Hafengebiets an Deutschland das chinesische Reich
mehr erschüttert und das chinesische Volk mehr erbittert haben, als die Ab¬
tretung von Hongkong und Virma an England, von Tonking und Aram an
Frankreich, vom Pamir- und Amurgebiet an Rußland, von Formosa an Japan,
von Port Arthur und Wei-hei-wei gar nicht zu reden? Die Wahrheit sei,
daß von den jetzt in China engagierten Mächten das Deutsche Reich sich am
meisten und längsten zurückgehalten habe. Unsre Position in Kiautschou be¬
ruhe zudem nicht auf gewaltsamer Eroberung, sondern auf einem völkerrecht¬
lichen Vertrage, wir stünden dort nicht als räuberische Eindringlinge da, sondern
als Besitzer einer mit der chinesischen Negierung in freiem Einverständnis ver¬
einbarten Konzession. Wir Hütten uns überhaupt China gegenüber immer
freundlich und wohlwollend benommen, wie unsre Haltung nach dem Siege
der Japaner vor vier Jahren sattsam beweise.




Reichskanzler und Reichstag

>er Reichstag hat sich in seiner neuen Session zuerst mit dem
Nachtrag des Reichshaushnltsetats für 1900/01 wegen der Kosten
der Chinaexpedition zu beschäftigen gehabt. Die Verhandlungen
sind in der Tagespresse des In- und des Auslands reichlich be¬
sprochen worden, und in seltner Einmütigkeit hat man den neuen
Reichskanzler zu der Art seines Auftretens und zu dem parlamentarischen Er¬
folg, soweit ein solcher schon vorliegt, beglückwünscht. Unzweideutig lassen diese
Äußerungen der öffentlichen Meinung zweierlei erkennen: erstens, daß in der
Beurteilung unsrer chinesischen Politik Graf Bülow der Wahrheit und der
Vernunft überall, wo nicht grundsätzlich an Lüge oder Unvernunft festgehalten
wird, zu einem glänzenden Siege verholfen hat; und zweitens, daß er den
Reichstag, seine Fraktionen und Mitglieder und seine politisch urteilsfähigen
Wähler überzeugt hat: Wir haben wieder einen Kanzler!

Über die chinesische Politik war nicht viel neues zu sagen: die Wahrheit
war bekannt. Trotzdem sind die Verhandlungen wichtig, denn den Fälschern
mußte endlich von berufenster Seite vor versammelter Volksvertretung in öffent¬
lichem kontradiktatorischem Verfahren ihr Handwerk gelegt werden. Und das
ist geschehn.

Gründlich hat der Reichskanzler dem mit der größten Zähigkeit immer
wieder aufgetischten Unsinn den Garaus gemacht, daß das Deutsche Reich
durch seine Festsetzung in Kiautschou die heutigen Wirren in China verschuldet
habe. Warum, so fragte er in seiner ersten Rede am 19. November, solle
denn die Verpachtung dieses Hafengebiets an Deutschland das chinesische Reich
mehr erschüttert und das chinesische Volk mehr erbittert haben, als die Ab¬
tretung von Hongkong und Virma an England, von Tonking und Aram an
Frankreich, vom Pamir- und Amurgebiet an Rußland, von Formosa an Japan,
von Port Arthur und Wei-hei-wei gar nicht zu reden? Die Wahrheit sei,
daß von den jetzt in China engagierten Mächten das Deutsche Reich sich am
meisten und längsten zurückgehalten habe. Unsre Position in Kiautschou be¬
ruhe zudem nicht auf gewaltsamer Eroberung, sondern auf einem völkerrecht¬
lichen Vertrage, wir stünden dort nicht als räuberische Eindringlinge da, sondern
als Besitzer einer mit der chinesischen Negierung in freiem Einverständnis ver¬
einbarten Konzession. Wir Hütten uns überhaupt China gegenüber immer
freundlich und wohlwollend benommen, wie unsre Haltung nach dem Siege
der Japaner vor vier Jahren sattsam beweise.


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[0464] [Abbildung] Reichskanzler und Reichstag >er Reichstag hat sich in seiner neuen Session zuerst mit dem Nachtrag des Reichshaushnltsetats für 1900/01 wegen der Kosten der Chinaexpedition zu beschäftigen gehabt. Die Verhandlungen sind in der Tagespresse des In- und des Auslands reichlich be¬ sprochen worden, und in seltner Einmütigkeit hat man den neuen Reichskanzler zu der Art seines Auftretens und zu dem parlamentarischen Er¬ folg, soweit ein solcher schon vorliegt, beglückwünscht. Unzweideutig lassen diese Äußerungen der öffentlichen Meinung zweierlei erkennen: erstens, daß in der Beurteilung unsrer chinesischen Politik Graf Bülow der Wahrheit und der Vernunft überall, wo nicht grundsätzlich an Lüge oder Unvernunft festgehalten wird, zu einem glänzenden Siege verholfen hat; und zweitens, daß er den Reichstag, seine Fraktionen und Mitglieder und seine politisch urteilsfähigen Wähler überzeugt hat: Wir haben wieder einen Kanzler! Über die chinesische Politik war nicht viel neues zu sagen: die Wahrheit war bekannt. Trotzdem sind die Verhandlungen wichtig, denn den Fälschern mußte endlich von berufenster Seite vor versammelter Volksvertretung in öffent¬ lichem kontradiktatorischem Verfahren ihr Handwerk gelegt werden. Und das ist geschehn. Gründlich hat der Reichskanzler dem mit der größten Zähigkeit immer wieder aufgetischten Unsinn den Garaus gemacht, daß das Deutsche Reich durch seine Festsetzung in Kiautschou die heutigen Wirren in China verschuldet habe. Warum, so fragte er in seiner ersten Rede am 19. November, solle denn die Verpachtung dieses Hafengebiets an Deutschland das chinesische Reich mehr erschüttert und das chinesische Volk mehr erbittert haben, als die Ab¬ tretung von Hongkong und Virma an England, von Tonking und Aram an Frankreich, vom Pamir- und Amurgebiet an Rußland, von Formosa an Japan, von Port Arthur und Wei-hei-wei gar nicht zu reden? Die Wahrheit sei, daß von den jetzt in China engagierten Mächten das Deutsche Reich sich am meisten und längsten zurückgehalten habe. Unsre Position in Kiautschou be¬ ruhe zudem nicht auf gewaltsamer Eroberung, sondern auf einem völkerrecht¬ lichen Vertrage, wir stünden dort nicht als räuberische Eindringlinge da, sondern als Besitzer einer mit der chinesischen Negierung in freiem Einverständnis ver¬ einbarten Konzession. Wir Hütten uns überhaupt China gegenüber immer freundlich und wohlwollend benommen, wie unsre Haltung nach dem Siege der Japaner vor vier Jahren sattsam beweise.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/464>, abgerufen am 24.05.2024.