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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Die russischen Hungersnöte^')

^>on den russischen Hungersnöten ist in unsern Zeitungen viel
weniger die Rede als von den indischen, und doch haben die
Zustände des großen Nachbarreichs eine ganz andre politische
und volkswirtschaftliche Bedeutung für uns als das ferne Indien.
!So verpflichten uns denn die Verfasser des unten genannten
Buchs zu Dank, indem sie eine Fülle persönlicher Eindrücke mitteilen samt
dem, was sie von Bauern, Gutsbesitzern, Gutsverwaltern, Popen, Ärzten,
männlichen und weiblichen Heilgehilfen (Feldscherern) und Pflegern, sowie
von obrigkeitlichen Personen erkundet haben, indem sie ferner mit Benutzung
amtlichen Materials die Ursachen der Plage untersuchen und ihre Darstellung
zu einer Übersicht des gesamten wirtschaftlichen Zustands Rußlands erweitern.
Lehmann ist Arzt, und Parvus der bekannte "Genosse," ein geborner Russe,
der seit seinen Studentenjahren in der Schweiz und in Deutschland lebt und
seinen wahren Namen verbirgt; aber sein svzialdemokratischer Standpunkt tritt
nnr an wenigen Stellen hervor, macht sich nirgends aufdringlich bemerkbar
und schädigt seine deutlich erkennbare Objektivität nicht im mindesten. Mit
den Übelkeit erregenden Beschreibungen des Aussehens der Hungernden und
Kranken und ihrer Wohnungen verschonen wir die Nerven der Leser. Der
tägliche Anblick solcher Jammerszenen hat zwar, wie die Erzähler gestehn, sie
selbst abgestumpft, aber sie werfen doch einigemal die Frage auf, wie es wohl
möglich sei, daß man in solcher Umgebung behaglich leben und sich satt essen
könne; "man kann das Elend nicht mehr mit ansehen," sagte ihnen denn auch
ein gar nicht sentimentaler deutscher Gutsverwalter; "wenn das noch ein Jahr
so weiter geht, ich glaube, ich reiße aus." Wir stellen hier nur das wichtigste
von dem zusammen, was von der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage Rußlands
einen Begriff giebt.

Die Verfasser teilen auf ihrer Karte Rußland ein in das Gebiet des
stündigen Getreidemangels, das den Norden und die Niederung der Wolga¬
mündung umfaßt, und das Gebiet des Getreideüberschusses, das an ein paar
Stellen über die Grenze der Schwarzerde nördlich hinaufreicht. Die nordöst¬
liche Hälfte dieses zweiten Gebiets ist es nnn, die hauptsächlich von den großen



*) Das hungernde Rußland. Reiseeindrücke, Beobachtungen und Untersuchungen von
Dr. E. Lehmann und Parvus. Mit vielen Illustrationen und einer Karte des Hunger-
gebiets. Stuttgart, I. H. W. Dietz Nachf., 1W0.


Die russischen Hungersnöte^')

^>on den russischen Hungersnöten ist in unsern Zeitungen viel
weniger die Rede als von den indischen, und doch haben die
Zustände des großen Nachbarreichs eine ganz andre politische
und volkswirtschaftliche Bedeutung für uns als das ferne Indien.
!So verpflichten uns denn die Verfasser des unten genannten
Buchs zu Dank, indem sie eine Fülle persönlicher Eindrücke mitteilen samt
dem, was sie von Bauern, Gutsbesitzern, Gutsverwaltern, Popen, Ärzten,
männlichen und weiblichen Heilgehilfen (Feldscherern) und Pflegern, sowie
von obrigkeitlichen Personen erkundet haben, indem sie ferner mit Benutzung
amtlichen Materials die Ursachen der Plage untersuchen und ihre Darstellung
zu einer Übersicht des gesamten wirtschaftlichen Zustands Rußlands erweitern.
Lehmann ist Arzt, und Parvus der bekannte „Genosse," ein geborner Russe,
der seit seinen Studentenjahren in der Schweiz und in Deutschland lebt und
seinen wahren Namen verbirgt; aber sein svzialdemokratischer Standpunkt tritt
nnr an wenigen Stellen hervor, macht sich nirgends aufdringlich bemerkbar
und schädigt seine deutlich erkennbare Objektivität nicht im mindesten. Mit
den Übelkeit erregenden Beschreibungen des Aussehens der Hungernden und
Kranken und ihrer Wohnungen verschonen wir die Nerven der Leser. Der
tägliche Anblick solcher Jammerszenen hat zwar, wie die Erzähler gestehn, sie
selbst abgestumpft, aber sie werfen doch einigemal die Frage auf, wie es wohl
möglich sei, daß man in solcher Umgebung behaglich leben und sich satt essen
könne; „man kann das Elend nicht mehr mit ansehen," sagte ihnen denn auch
ein gar nicht sentimentaler deutscher Gutsverwalter; „wenn das noch ein Jahr
so weiter geht, ich glaube, ich reiße aus." Wir stellen hier nur das wichtigste
von dem zusammen, was von der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage Rußlands
einen Begriff giebt.

Die Verfasser teilen auf ihrer Karte Rußland ein in das Gebiet des
stündigen Getreidemangels, das den Norden und die Niederung der Wolga¬
mündung umfaßt, und das Gebiet des Getreideüberschusses, das an ein paar
Stellen über die Grenze der Schwarzerde nördlich hinaufreicht. Die nordöst¬
liche Hälfte dieses zweiten Gebiets ist es nnn, die hauptsächlich von den großen



*) Das hungernde Rußland. Reiseeindrücke, Beobachtungen und Untersuchungen von
Dr. E. Lehmann und Parvus. Mit vielen Illustrationen und einer Karte des Hunger-
gebiets. Stuttgart, I. H. W. Dietz Nachf., 1W0.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/496>, abgerufen am 23.05.2024.