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Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr.

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Das Jahrhundert

Chronologie I 74, II 381 ff.). Es erschien als Widersinn zu sagen, Christus
sei im ersten Jahre nach Christus geboren. Der gleiche Widersinn besteht
zwar auch für das erste Jahr vor Christus, aber man belastete damit lieber
das Jahr vor der Epoche als nach ihr. Der Widerspruch kann eben nur
durch Einführung eines besondern Christusjahres vermieden werden, das dann
Jahr 0 heißen muß. Rückte aber der Geburtstag aus dem Jahre 754 in das
Jahr 753, dann wandelten sich unsre Jahreszahlen ans Ordnungszahlen in
Grundzahlen um, was sie der Form nach ja längst waren, und gaben nun,
wenn man das Jahr 753 voll nahm wie bei den Herrscher-Eren, gewisser¬
maßen an, wie lange Christus auf Erden sei. So erklärt sich denn auch,
warum viele meinen, unsre Jahreszahl 1900 gebe die abgelaufne Zeit an,
während die Epoche des Dionys selbst laufende Zeit fordert. Die Vor¬
stellung der Jahreszahl als abgelaufner Zeit kommt indessen schon im Mittel¬
alter vor; in einer Urkunde heißt es: in afin Mr, av von vnsers nerrin sso-
Kurt og-rin ^völkdunäert pria eures ora MrckÄA Mr.


2. Die Astronomen.

W
ährend die Julianische Err des stätiger dem
Fahrenheitschen Thermometer vergleichbar ist, die beide nur so lange von nega¬
tiven Zahlen frei sind, als es nicht über die Grenze hinausgeht, ähnelt die er¬
weiterte Era des Dionys dem Thermometer mit dem Schmelzpunkt (0). Dabei
muß man jedoch zwei Zählweisen unterscheiden: entweder man betrachtet 0
als Anfangspunkt und zählt in entgegengesetzter Richtung, oder man ver¬
legt den Anfang ins negativ Unendliche (-- "?) und zählt in der gleichen
Richtung.



Die erste Zühlweise wendet man bei der Würmemessung an, die zweite
bei der Zeitmessung. Bei der Wärme messen wir über (0) die Ausdehnung,
unter (0) die Zusammenziehung des Quecksilbers; bei der Zeit ist solch
Verfahren ausgeschlossen, da die Ereignisse nur in einer Richtung verfolgt
werden können. Wer die vorchristliche Zeit in abgewandter Richtung be¬
trachtet, muß vom Ende jedes Jahres zurückspringen zum Anfang des vorher¬
gehenden, wie jemand, der von einem Drama erst den fünften Akt liest, dann
den vierten usw.; bei der Zühlung der Monate muß der Dezember als erster,
der Januar als zwölfter Monat bewertet werden, und bei Tagen und Stunden
muß man den Rest von 30 und 24 nehmen. Ein Beispiel: Rom ward ge¬
gründet im Jahre 753 v. Chr. am 21. April. Vom Anfangspunkt (Christi
Geburt) gezählt ist der April nicht der vierte, sondern der neunte Monat,
und der Tag ist nicht der einundzwanzigste, sondern der zehnte. Das giebt
natürlich leicht Verwirrung. Unsre zweite Zählweise ist davon frei. Eigent¬
lich sollte man auch beim Thermometer die zweite Zählweise anwenden und
nur aufwärts zählen; steht das Quecksilber bei -- 0,1, so würde man alsdann
sagen --1 -s-0,9 oder kurz 1,9. Kälte- und Wärmegrade sind keine Gegen-


Das Jahrhundert

Chronologie I 74, II 381 ff.). Es erschien als Widersinn zu sagen, Christus
sei im ersten Jahre nach Christus geboren. Der gleiche Widersinn besteht
zwar auch für das erste Jahr vor Christus, aber man belastete damit lieber
das Jahr vor der Epoche als nach ihr. Der Widerspruch kann eben nur
durch Einführung eines besondern Christusjahres vermieden werden, das dann
Jahr 0 heißen muß. Rückte aber der Geburtstag aus dem Jahre 754 in das
Jahr 753, dann wandelten sich unsre Jahreszahlen ans Ordnungszahlen in
Grundzahlen um, was sie der Form nach ja längst waren, und gaben nun,
wenn man das Jahr 753 voll nahm wie bei den Herrscher-Eren, gewisser¬
maßen an, wie lange Christus auf Erden sei. So erklärt sich denn auch,
warum viele meinen, unsre Jahreszahl 1900 gebe die abgelaufne Zeit an,
während die Epoche des Dionys selbst laufende Zeit fordert. Die Vor¬
stellung der Jahreszahl als abgelaufner Zeit kommt indessen schon im Mittel¬
alter vor; in einer Urkunde heißt es: in afin Mr, av von vnsers nerrin sso-
Kurt og-rin ^völkdunäert pria eures ora MrckÄA Mr.


2. Die Astronomen.

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ährend die Julianische Err des stätiger dem
Fahrenheitschen Thermometer vergleichbar ist, die beide nur so lange von nega¬
tiven Zahlen frei sind, als es nicht über die Grenze hinausgeht, ähnelt die er¬
weiterte Era des Dionys dem Thermometer mit dem Schmelzpunkt (0). Dabei
muß man jedoch zwei Zählweisen unterscheiden: entweder man betrachtet 0
als Anfangspunkt und zählt in entgegengesetzter Richtung, oder man ver¬
legt den Anfang ins negativ Unendliche (— «?) und zählt in der gleichen
Richtung.



Die erste Zühlweise wendet man bei der Würmemessung an, die zweite
bei der Zeitmessung. Bei der Wärme messen wir über (0) die Ausdehnung,
unter (0) die Zusammenziehung des Quecksilbers; bei der Zeit ist solch
Verfahren ausgeschlossen, da die Ereignisse nur in einer Richtung verfolgt
werden können. Wer die vorchristliche Zeit in abgewandter Richtung be¬
trachtet, muß vom Ende jedes Jahres zurückspringen zum Anfang des vorher¬
gehenden, wie jemand, der von einem Drama erst den fünften Akt liest, dann
den vierten usw.; bei der Zühlung der Monate muß der Dezember als erster,
der Januar als zwölfter Monat bewertet werden, und bei Tagen und Stunden
muß man den Rest von 30 und 24 nehmen. Ein Beispiel: Rom ward ge¬
gründet im Jahre 753 v. Chr. am 21. April. Vom Anfangspunkt (Christi
Geburt) gezählt ist der April nicht der vierte, sondern der neunte Monat,
und der Tag ist nicht der einundzwanzigste, sondern der zehnte. Das giebt
natürlich leicht Verwirrung. Unsre zweite Zählweise ist davon frei. Eigent¬
lich sollte man auch beim Thermometer die zweite Zählweise anwenden und
nur aufwärts zählen; steht das Quecksilber bei — 0,1, so würde man alsdann
sagen —1 -s-0,9 oder kurz 1,9. Kälte- und Wärmegrade sind keine Gegen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 59, 1900, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341871_291076/594>, abgerufen am 24.05.2024.