Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Die Satiren des Horaz im Ächte des modernen
italienischen Lebens
Gelo Raemmel von

ir Nordländer stehn zum klassischen Altertum ganz anders als
die Völker des klassischen Südens. Für uus ist es im wesent¬
lichen ein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und ein
hervorragendes Bildungsmittel, jedenfalls ein in sich abge¬
schlossenes Ganze; für die Südländer ist es ein fortlebendes Stück
der nationalen Vergangenheit, mit der der Zusammenhang niemals unter¬
brochen worden ist. Mag in Griechenland diese Erkenntnis mehr ein Ergebnis
der neugriechischen Renaissance sein, die auch die neugriechische Sprache der
Gebildeten als eine Art von Kunstprodukt geschaffen hat, so ist doch die Kette
der Zeiten trotz aller Barbarenstürme anch dort niemals ganz abgerissen, und
namentlich in abliegenden Hochgebirgsthälern, die der moderne Verkehr um so
weniger erreicht, als Griechenland heute von seinen großen Linien mehr um¬
gangen als geschnitten wird, haben sich uralte "homerische" Zustünde bis
heute erhalten. Die Entwicklung Italiens aber reicht im Bewußtsein seines
Volks in ununterbrochnem Zusammenhange bis ins fernste Altertum zurück.
Auch seine Denkmäler haben die Italiener niemals als etwas bloß Historisches
und darum Ehrwürdiges empfunden; sie haben sie zu allen Zeiten, bis tief
in die Renaissance hinein, zu Zwecken der Gegenwart abgebrochen, beraubt,
umgestaltet, sodaß das päpstliche Rom größtenteils einfach aus antikem Ma¬
terial hergestellt worden ist. Denn wozu sollte man Säulen und Quadern
und Marmortafeln erst mühsam aus Steinbrüchen gewinnen, wenn man sie
an unbenützten antiken Gebäuden in reichster Fülle und schönster Ausführung
vorfand?

Auch Italien ist im Mittelalter von fremden Einwandrern überschwemmt
worden; Ostgoten und Langobarden, fränkische und deutsche Geschlechter haben
sich im Norden und in der Mitte. Griechen, Normannen, Spanier und Araber
in Süditalien und Sizilien niedergelassen, aber sie sind spurlos ausgesogen
worden bis auf bedeutungslose Neste und haben nnr in zahlreichen Personen¬
namen und in der Sprache Erinnerungen an ihr Dasein hinterlassen. Sie er¬
scheinen deshalb fast nur als störende, nur selten als aufbauende Kräfte. So
beherrscht heute eine auf den ersten Blick sehr gleichmäßige Kultur die gnuze
Halbinsel von den Alpen bis zum afrikanischen Meere, und dem Fremden fällt




Die Satiren des Horaz im Ächte des modernen
italienischen Lebens
Gelo Raemmel von

ir Nordländer stehn zum klassischen Altertum ganz anders als
die Völker des klassischen Südens. Für uus ist es im wesent¬
lichen ein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und ein
hervorragendes Bildungsmittel, jedenfalls ein in sich abge¬
schlossenes Ganze; für die Südländer ist es ein fortlebendes Stück
der nationalen Vergangenheit, mit der der Zusammenhang niemals unter¬
brochen worden ist. Mag in Griechenland diese Erkenntnis mehr ein Ergebnis
der neugriechischen Renaissance sein, die auch die neugriechische Sprache der
Gebildeten als eine Art von Kunstprodukt geschaffen hat, so ist doch die Kette
der Zeiten trotz aller Barbarenstürme anch dort niemals ganz abgerissen, und
namentlich in abliegenden Hochgebirgsthälern, die der moderne Verkehr um so
weniger erreicht, als Griechenland heute von seinen großen Linien mehr um¬
gangen als geschnitten wird, haben sich uralte „homerische" Zustünde bis
heute erhalten. Die Entwicklung Italiens aber reicht im Bewußtsein seines
Volks in ununterbrochnem Zusammenhange bis ins fernste Altertum zurück.
Auch seine Denkmäler haben die Italiener niemals als etwas bloß Historisches
und darum Ehrwürdiges empfunden; sie haben sie zu allen Zeiten, bis tief
in die Renaissance hinein, zu Zwecken der Gegenwart abgebrochen, beraubt,
umgestaltet, sodaß das päpstliche Rom größtenteils einfach aus antikem Ma¬
terial hergestellt worden ist. Denn wozu sollte man Säulen und Quadern
und Marmortafeln erst mühsam aus Steinbrüchen gewinnen, wenn man sie
an unbenützten antiken Gebäuden in reichster Fülle und schönster Ausführung
vorfand?

Auch Italien ist im Mittelalter von fremden Einwandrern überschwemmt
worden; Ostgoten und Langobarden, fränkische und deutsche Geschlechter haben
sich im Norden und in der Mitte. Griechen, Normannen, Spanier und Araber
in Süditalien und Sizilien niedergelassen, aber sie sind spurlos ausgesogen
worden bis auf bedeutungslose Neste und haben nnr in zahlreichen Personen¬
namen und in der Sprache Erinnerungen an ihr Dasein hinterlassen. Sie er¬
scheinen deshalb fast nur als störende, nur selten als aufbauende Kräfte. So
beherrscht heute eine auf den ersten Blick sehr gleichmäßige Kultur die gnuze
Halbinsel von den Alpen bis zum afrikanischen Meere, und dem Fremden fällt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0410" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/234940"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341873_234529/figures/grenzboten_341873_234529_234940_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Die Satiren des Horaz im Ächte des modernen<lb/>
italienischen Lebens<lb/><note type="byline"> Gelo Raemmel</note> von </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1201"> ir Nordländer stehn zum klassischen Altertum ganz anders als<lb/>
die Völker des klassischen Südens. Für uus ist es im wesent¬<lb/>
lichen ein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und ein<lb/>
hervorragendes Bildungsmittel, jedenfalls ein in sich abge¬<lb/>
schlossenes Ganze; für die Südländer ist es ein fortlebendes Stück<lb/>
der nationalen Vergangenheit, mit der der Zusammenhang niemals unter¬<lb/>
brochen worden ist. Mag in Griechenland diese Erkenntnis mehr ein Ergebnis<lb/>
der neugriechischen Renaissance sein, die auch die neugriechische Sprache der<lb/>
Gebildeten als eine Art von Kunstprodukt geschaffen hat, so ist doch die Kette<lb/>
der Zeiten trotz aller Barbarenstürme anch dort niemals ganz abgerissen, und<lb/>
namentlich in abliegenden Hochgebirgsthälern, die der moderne Verkehr um so<lb/>
weniger erreicht, als Griechenland heute von seinen großen Linien mehr um¬<lb/>
gangen als geschnitten wird, haben sich uralte &#x201E;homerische" Zustünde bis<lb/>
heute erhalten. Die Entwicklung Italiens aber reicht im Bewußtsein seines<lb/>
Volks in ununterbrochnem Zusammenhange bis ins fernste Altertum zurück.<lb/>
Auch seine Denkmäler haben die Italiener niemals als etwas bloß Historisches<lb/>
und darum Ehrwürdiges empfunden; sie haben sie zu allen Zeiten, bis tief<lb/>
in die Renaissance hinein, zu Zwecken der Gegenwart abgebrochen, beraubt,<lb/>
umgestaltet, sodaß das päpstliche Rom größtenteils einfach aus antikem Ma¬<lb/>
terial hergestellt worden ist. Denn wozu sollte man Säulen und Quadern<lb/>
und Marmortafeln erst mühsam aus Steinbrüchen gewinnen, wenn man sie<lb/>
an unbenützten antiken Gebäuden in reichster Fülle und schönster Ausführung<lb/>
vorfand?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1202" next="#ID_1203"> Auch Italien ist im Mittelalter von fremden Einwandrern überschwemmt<lb/>
worden; Ostgoten und Langobarden, fränkische und deutsche Geschlechter haben<lb/>
sich im Norden und in der Mitte. Griechen, Normannen, Spanier und Araber<lb/>
in Süditalien und Sizilien niedergelassen, aber sie sind spurlos ausgesogen<lb/>
worden bis auf bedeutungslose Neste und haben nnr in zahlreichen Personen¬<lb/>
namen und in der Sprache Erinnerungen an ihr Dasein hinterlassen. Sie er¬<lb/>
scheinen deshalb fast nur als störende, nur selten als aufbauende Kräfte. So<lb/>
beherrscht heute eine auf den ersten Blick sehr gleichmäßige Kultur die gnuze<lb/>
Halbinsel von den Alpen bis zum afrikanischen Meere, und dem Fremden fällt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0410] [Abbildung] Die Satiren des Horaz im Ächte des modernen italienischen Lebens Gelo Raemmel von ir Nordländer stehn zum klassischen Altertum ganz anders als die Völker des klassischen Südens. Für uus ist es im wesent¬ lichen ein Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und ein hervorragendes Bildungsmittel, jedenfalls ein in sich abge¬ schlossenes Ganze; für die Südländer ist es ein fortlebendes Stück der nationalen Vergangenheit, mit der der Zusammenhang niemals unter¬ brochen worden ist. Mag in Griechenland diese Erkenntnis mehr ein Ergebnis der neugriechischen Renaissance sein, die auch die neugriechische Sprache der Gebildeten als eine Art von Kunstprodukt geschaffen hat, so ist doch die Kette der Zeiten trotz aller Barbarenstürme anch dort niemals ganz abgerissen, und namentlich in abliegenden Hochgebirgsthälern, die der moderne Verkehr um so weniger erreicht, als Griechenland heute von seinen großen Linien mehr um¬ gangen als geschnitten wird, haben sich uralte „homerische" Zustünde bis heute erhalten. Die Entwicklung Italiens aber reicht im Bewußtsein seines Volks in ununterbrochnem Zusammenhange bis ins fernste Altertum zurück. Auch seine Denkmäler haben die Italiener niemals als etwas bloß Historisches und darum Ehrwürdiges empfunden; sie haben sie zu allen Zeiten, bis tief in die Renaissance hinein, zu Zwecken der Gegenwart abgebrochen, beraubt, umgestaltet, sodaß das päpstliche Rom größtenteils einfach aus antikem Ma¬ terial hergestellt worden ist. Denn wozu sollte man Säulen und Quadern und Marmortafeln erst mühsam aus Steinbrüchen gewinnen, wenn man sie an unbenützten antiken Gebäuden in reichster Fülle und schönster Ausführung vorfand? Auch Italien ist im Mittelalter von fremden Einwandrern überschwemmt worden; Ostgoten und Langobarden, fränkische und deutsche Geschlechter haben sich im Norden und in der Mitte. Griechen, Normannen, Spanier und Araber in Süditalien und Sizilien niedergelassen, aber sie sind spurlos ausgesogen worden bis auf bedeutungslose Neste und haben nnr in zahlreichen Personen¬ namen und in der Sprache Erinnerungen an ihr Dasein hinterlassen. Sie er¬ scheinen deshalb fast nur als störende, nur selten als aufbauende Kräfte. So beherrscht heute eine auf den ersten Blick sehr gleichmäßige Kultur die gnuze Halbinsel von den Alpen bis zum afrikanischen Meere, und dem Fremden fällt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/410
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/410>, abgerufen am 05.05.2024.