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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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d. h, in europäischer Sprache: es solle keine Selbstverwaltung geben. Hat
Witte an Calonne und die Notabeln gedacht? Haben wir Anlaß, an Jules
Polignac und die Ordonnanzen zu erinnern? Rußland ist nicht Frankreich,
aber die Russe" sind denn doch auch, sozusagen, Menschen.


L. von der Brüg gen


Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

ir stellen heute einige Beitrüge zur modernen Litteratnrbewcgimg
zusammen, die sich an Menschen von ernstern Gedanken wenden.
In Otto vonLeixners "Überflüssigem Herzensergießungen eines
Ungläubigen" (Berlin, Zanke) könnte das erste und das letzte
WdIM^A Wort leicht mißverstanden werden, was fiir den Erfolg des Buchs,
da für die meisten Leser der Titel entscheidet, bedauerlich wäre. Dieses "Über¬
flüssig" ist nämlich ein etwas frostiger Scherz, und ungläubig in dein Sinne,
den die meisten damit verbinden, ist der Verfasser durchaus nicht, im Gegenteil!
Solche Ironien, die man selbst manchmal sehr schön findet, nehmen leider die
andern meistens wörtlich. Uns ging es z. B. so mit des Verfassers Buche
"Also sprach Zarathustras Sohn." Wir lasen es nicht, weil wir nach dem
Titel das Gegenteil von dem erwarteten, was, wie wir nunmehr wissen, darin
steht (erst jetzt haben wir uns den Titel gedeutet), und wir bedauern das,
denn wir sind überzeugt, daß uns das frühere Buch ebenso zugesagt hätte wie
dieses. Die Titelfrage ist also für Bücher nicht minder wichtig als für Menschen.
Leixners Predigten nun richten sich gegen das geckenhafte Wesen des modernen
Dekadentcntnms in Litteratur und Kunst, das mit seiner Weltmüdigkeit kokettiert
und mit nichtigen Äußerlichkeiten wichtig thut. Nachdem die großen Männer
das geeinigte Deutschland zum Handeln aufgerufen haben, spielen die matten
Jünglinge immer nur mit ihren Empfindungen, und ihren Thorheiten hält der
Verfasser zunächst den Spiegel seines Witzes vor. Er hat, so fingiert er, eine
Erbschaft gemacht, schafft sich eine neuzeitliche Zimmereinrichtung an, läßt sich
von einem jungen Übermenschen unterrichten und wird ein völlig moderner
Mensch, indem er alles, was um Kunst und Litteratur, an Ausstattung, Kleidung
und Lebensweise zu dieser Umbildung nötig ist, mit einer erstaunlicher Kenntnis
des Details in anschaulicher Erzählung seinen Lesern vor die Augen stellt.
Am Schluß dieses Kursus kommt er sich so ausgesucht albern und einfältig
vor, daß ihm nichts übrig bleibt als umzukehren, die Maskerade des Neuen
abzuwerfen und in einer Nervenheilanstalt seine Seele wieder für die Auf¬
nahme des "großen Alten" fähig zu machen. Auf diese Kritik folgt als der
größere, positive Teil in der Form von Selbstbekenntnissen und Ermahnungen
die Darlegung einer gesunden, ernsten und weitsehenden Weltanschauung, aus


d. h, in europäischer Sprache: es solle keine Selbstverwaltung geben. Hat
Witte an Calonne und die Notabeln gedacht? Haben wir Anlaß, an Jules
Polignac und die Ordonnanzen zu erinnern? Rußland ist nicht Frankreich,
aber die Russe» sind denn doch auch, sozusagen, Menschen.


L. von der Brüg gen


Zur modernen Litteratur, namentlich des Dramas

ir stellen heute einige Beitrüge zur modernen Litteratnrbewcgimg
zusammen, die sich an Menschen von ernstern Gedanken wenden.
In Otto vonLeixners „Überflüssigem Herzensergießungen eines
Ungläubigen" (Berlin, Zanke) könnte das erste und das letzte
WdIM^A Wort leicht mißverstanden werden, was fiir den Erfolg des Buchs,
da für die meisten Leser der Titel entscheidet, bedauerlich wäre. Dieses „Über¬
flüssig" ist nämlich ein etwas frostiger Scherz, und ungläubig in dein Sinne,
den die meisten damit verbinden, ist der Verfasser durchaus nicht, im Gegenteil!
Solche Ironien, die man selbst manchmal sehr schön findet, nehmen leider die
andern meistens wörtlich. Uns ging es z. B. so mit des Verfassers Buche
„Also sprach Zarathustras Sohn." Wir lasen es nicht, weil wir nach dem
Titel das Gegenteil von dem erwarteten, was, wie wir nunmehr wissen, darin
steht (erst jetzt haben wir uns den Titel gedeutet), und wir bedauern das,
denn wir sind überzeugt, daß uns das frühere Buch ebenso zugesagt hätte wie
dieses. Die Titelfrage ist also für Bücher nicht minder wichtig als für Menschen.
Leixners Predigten nun richten sich gegen das geckenhafte Wesen des modernen
Dekadentcntnms in Litteratur und Kunst, das mit seiner Weltmüdigkeit kokettiert
und mit nichtigen Äußerlichkeiten wichtig thut. Nachdem die großen Männer
das geeinigte Deutschland zum Handeln aufgerufen haben, spielen die matten
Jünglinge immer nur mit ihren Empfindungen, und ihren Thorheiten hält der
Verfasser zunächst den Spiegel seines Witzes vor. Er hat, so fingiert er, eine
Erbschaft gemacht, schafft sich eine neuzeitliche Zimmereinrichtung an, läßt sich
von einem jungen Übermenschen unterrichten und wird ein völlig moderner
Mensch, indem er alles, was um Kunst und Litteratur, an Ausstattung, Kleidung
und Lebensweise zu dieser Umbildung nötig ist, mit einer erstaunlicher Kenntnis
des Details in anschaulicher Erzählung seinen Lesern vor die Augen stellt.
Am Schluß dieses Kursus kommt er sich so ausgesucht albern und einfältig
vor, daß ihm nichts übrig bleibt als umzukehren, die Maskerade des Neuen
abzuwerfen und in einer Nervenheilanstalt seine Seele wieder für die Auf¬
nahme des „großen Alten" fähig zu machen. Auf diese Kritik folgt als der
größere, positive Teil in der Form von Selbstbekenntnissen und Ermahnungen
die Darlegung einer gesunden, ernsten und weitsehenden Weltanschauung, aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/326>, abgerufen am 28.04.2024.