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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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sie einem erneuten Anfall erliegen. Wenig Teige zuvor hulde sie in einer
kleinen Gesellschaft in ihrem Hanse Schillers Kassandra vorgetragen, nud bei
den Wörtern "Soll ich mein Geschick vollenden, sterben in dem fremden Land?"
war sie selber wie von einer Vorahnung aufs tiefste ergriffen, nud die Zu¬
hörer erschraken, wie ihr plötzlich der Atem und fast die Besinnung versagte.
Am 22, Februar wurde sie auf dem ?vro l" "ülmiss beerdigt, Reinhard aber
schrieb dem befreundeten Arzt Harnier nach Kassel: "Was bedeutet es, wenn
ihr Körper in ihr fremder Erde liegt? Ach! die Seele, der Geist, alles, was
sie selbst war, gehört einem andern Lande an,"

Ju den hier mitgeteilten Briefe" findet sich nichts, was auf ihre sehn¬
süchtige Rückwendnng nach Deutschland hindeutete. Es ist aber schwer an-
zunehmen, daß Christine in den Briefen an ihre Mutter diese Saite ganz nn-
beriihrt ließ. Hat die Herausgeberin solche Stelle" ausgelassen? Die Publi¬
kation ist für französische Leser bestimmt, und dadurch scheint auch die Aus¬
wahl, die aus den Briefen getroffen ist, beeinflußt zu sein. Durch die Ver¬
mittlung der Looieto ä'bistoirv eonwinporaino an die Öffentlichkeit gebracht,
erscheinen die Briefe jetzt als ein Beitrag zur französischen Geschichte jenes
Zeitraums; man Hütte sie als Beitrag zur Kenntnis einer merkwürdigen
deutschen Fran bearbeiten und veröffentlichen können, und damit hätte die
Herausgeberin dem Andenken ihrer Großmutter vielleicht einen größern Dienst
w, L. erwiesen,




Die Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie
Gin Dokument deutscher Umist

le ästhetische Erziehung des Menschen, über die einst Schiller
seine berühmten Briefe an deu Herzog von Holstein-Augusten-
burg geschrieben hat, hat i" der neusten Zeit wieder angefangen,
eine Rolle in der Kulturentwicklung zu spielen. Zum Teil
Modesache, zum Teil ein Berlegenheitsprodnkt, da man sich in
religiöse", philosophischen und sozialen Fragen nicht recht zu helfe" weiß, zum
Teil notwendige Reaktion gegen unhaltbare Zustände, hat sie ihr Gutes "ut
Schlechtes, ihr Bleibendes und ihr Vergängliches wie alle derartigen Strömungen
um Geistesleben; auch ihr Tragisches hat sie und ihr Komisches, Beides am
meiste" da, wo am stärksten gekämpft, am kühnsten genauere wird. Neuern
wollen sie ja überall, in der Sprache, wie schon das Wort sagt, in der Dicht¬
kunst, auf den Bühnen, in und an deu tausend Buden auf dem Jahrmarkt
des Lebeus, in und an seine" Akteurs, überall, Und wer nicht mitthun will,


sie einem erneuten Anfall erliegen. Wenig Teige zuvor hulde sie in einer
kleinen Gesellschaft in ihrem Hanse Schillers Kassandra vorgetragen, nud bei
den Wörtern „Soll ich mein Geschick vollenden, sterben in dem fremden Land?"
war sie selber wie von einer Vorahnung aufs tiefste ergriffen, nud die Zu¬
hörer erschraken, wie ihr plötzlich der Atem und fast die Besinnung versagte.
Am 22, Februar wurde sie auf dem ?vro l» «ülmiss beerdigt, Reinhard aber
schrieb dem befreundeten Arzt Harnier nach Kassel: „Was bedeutet es, wenn
ihr Körper in ihr fremder Erde liegt? Ach! die Seele, der Geist, alles, was
sie selbst war, gehört einem andern Lande an,"

Ju den hier mitgeteilten Briefe» findet sich nichts, was auf ihre sehn¬
süchtige Rückwendnng nach Deutschland hindeutete. Es ist aber schwer an-
zunehmen, daß Christine in den Briefen an ihre Mutter diese Saite ganz nn-
beriihrt ließ. Hat die Herausgeberin solche Stelle» ausgelassen? Die Publi¬
kation ist für französische Leser bestimmt, und dadurch scheint auch die Aus¬
wahl, die aus den Briefen getroffen ist, beeinflußt zu sein. Durch die Ver¬
mittlung der Looieto ä'bistoirv eonwinporaino an die Öffentlichkeit gebracht,
erscheinen die Briefe jetzt als ein Beitrag zur französischen Geschichte jenes
Zeitraums; man Hütte sie als Beitrag zur Kenntnis einer merkwürdigen
deutschen Fran bearbeiten und veröffentlichen können, und damit hätte die
Herausgeberin dem Andenken ihrer Großmutter vielleicht einen größern Dienst
w, L. erwiesen,




Die Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie
Gin Dokument deutscher Umist

le ästhetische Erziehung des Menschen, über die einst Schiller
seine berühmten Briefe an deu Herzog von Holstein-Augusten-
burg geschrieben hat, hat i» der neusten Zeit wieder angefangen,
eine Rolle in der Kulturentwicklung zu spielen. Zum Teil
Modesache, zum Teil ein Berlegenheitsprodnkt, da man sich in
religiöse», philosophischen und sozialen Fragen nicht recht zu helfe» weiß, zum
Teil notwendige Reaktion gegen unhaltbare Zustände, hat sie ihr Gutes »ut
Schlechtes, ihr Bleibendes und ihr Vergängliches wie alle derartigen Strömungen
um Geistesleben; auch ihr Tragisches hat sie und ihr Komisches, Beides am
meiste» da, wo am stärksten gekämpft, am kühnsten genauere wird. Neuern
wollen sie ja überall, in der Sprache, wie schon das Wort sagt, in der Dicht¬
kunst, auf den Bühnen, in und an deu tausend Buden auf dem Jahrmarkt
des Lebeus, in und an seine» Akteurs, überall, Und wer nicht mitthun will,


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[0427] sie einem erneuten Anfall erliegen. Wenig Teige zuvor hulde sie in einer kleinen Gesellschaft in ihrem Hanse Schillers Kassandra vorgetragen, nud bei den Wörtern „Soll ich mein Geschick vollenden, sterben in dem fremden Land?" war sie selber wie von einer Vorahnung aufs tiefste ergriffen, nud die Zu¬ hörer erschraken, wie ihr plötzlich der Atem und fast die Besinnung versagte. Am 22, Februar wurde sie auf dem ?vro l» «ülmiss beerdigt, Reinhard aber schrieb dem befreundeten Arzt Harnier nach Kassel: „Was bedeutet es, wenn ihr Körper in ihr fremder Erde liegt? Ach! die Seele, der Geist, alles, was sie selbst war, gehört einem andern Lande an," Ju den hier mitgeteilten Briefe» findet sich nichts, was auf ihre sehn¬ süchtige Rückwendnng nach Deutschland hindeutete. Es ist aber schwer an- zunehmen, daß Christine in den Briefen an ihre Mutter diese Saite ganz nn- beriihrt ließ. Hat die Herausgeberin solche Stelle» ausgelassen? Die Publi¬ kation ist für französische Leser bestimmt, und dadurch scheint auch die Aus¬ wahl, die aus den Briefen getroffen ist, beeinflußt zu sein. Durch die Ver¬ mittlung der Looieto ä'bistoirv eonwinporaino an die Öffentlichkeit gebracht, erscheinen die Briefe jetzt als ein Beitrag zur französischen Geschichte jenes Zeitraums; man Hütte sie als Beitrag zur Kenntnis einer merkwürdigen deutschen Fran bearbeiten und veröffentlichen können, und damit hätte die Herausgeberin dem Andenken ihrer Großmutter vielleicht einen größern Dienst w, L. erwiesen, Die Ausstellung der Darmstädter Künstlerkolonie Gin Dokument deutscher Umist le ästhetische Erziehung des Menschen, über die einst Schiller seine berühmten Briefe an deu Herzog von Holstein-Augusten- burg geschrieben hat, hat i» der neusten Zeit wieder angefangen, eine Rolle in der Kulturentwicklung zu spielen. Zum Teil Modesache, zum Teil ein Berlegenheitsprodnkt, da man sich in religiöse», philosophischen und sozialen Fragen nicht recht zu helfe» weiß, zum Teil notwendige Reaktion gegen unhaltbare Zustände, hat sie ihr Gutes »ut Schlechtes, ihr Bleibendes und ihr Vergängliches wie alle derartigen Strömungen um Geistesleben; auch ihr Tragisches hat sie und ihr Komisches, Beides am meiste» da, wo am stärksten gekämpft, am kühnsten genauere wird. Neuern wollen sie ja überall, in der Sprache, wie schon das Wort sagt, in der Dicht¬ kunst, auf den Bühnen, in und an deu tausend Buden auf dem Jahrmarkt des Lebeus, in und an seine» Akteurs, überall, Und wer nicht mitthun will,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/427>, abgerufen am 27.04.2024.