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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr.

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Jan Steen und das Sittenbild der Holländer

ihre Pflicht thun, unberührt vom Geschrei der Marktes. Und bei praktischen
Maßregeln sollten die Konsequenzen sorgsam erwogen werden und Männern
des praktischen Lebens eine entscheidende Stimme zustehn. In den Volkshcil-
stüttcn ruht gewiß ein Segen; er bedarf aber sorglicher Pflege ohne übereiltes
Treiben. Von all den andern Plänen wird der Praktiker einen besonders
willkommen heißen: die Errichtung von Siechcnheimen für Schwerkranke Tuber¬
kulose, und auch dies nicht wegen der problematischen Bekämpfung der An¬
steckungsgefahr, sondern weil die übertriebne Bazillentheorie mitgeholfen hat,
dem Kranken sein Leben zu verbittern. Kein Krankenhaus will ihn behalten,
keine Siechenanstalt nimmt ihn auf, Freunde und Verwandte mit ihrer künstlich
genährten Angst vor Tuberkeln ekeln sich vor ihm, diese Angst raubt ihm fast
jede Erwerbsmöglichkeit, so führt er, wenn er mittellos ist, das elendeste Da¬
sein. Jede Woche sehe ich solche Leute vor mir, ohne ihnen anders als mit
einer kleinen Gabe helfen zu können. Ani ihres Elends willen, nicht irgend
einer unsichern Theorie zuliebe, sollte man Abhilfe schaffen. Daran hätte man
schon eher gedacht, wenn nicht wie jetzt die Verhütung der Ansteckung, so
vorher die Heilung der beginnenden Krankheit aus unfertigen Theorien heraus
das große Wort geführt hätten. Man scheide die verschiednen Aufgaben des
Forschers und des Menschenfreundes und nehme für beide: mehr Wissenschaft
und mehr Praxis!




Jan Heem und das Sittenbild der Holländer
Adolf Philipp! von

as Kleinfigurenbild mit namenlosen Personen, die nur ihre
Gattung vertreten, und die dann durch eine gegenständliche Be¬
ziehung miteinander verbunden sind, dieses Gattungs-, Gegen¬
stands- oder, wie man früher vorzugsweise sagte, Genrebild sollte
nach seiner immanenten Ästhetik oder den in der Sache liegenden
Regeln alles zu stark Individuelle vermeiden, wodurch es sich dem Porträt
nähern würde, und ebenso ein Übermaß von Handlung, alles Außergewöhn¬
liche, Einmalige, was der Historienmalerei zufällt. Das Alltägliche und in
seiner Zeit Allgemeinverständliche ist der Stoff dieses eigentümlichen Sitten¬
bildes. Denn es zeigt uns eben nicht bloß das Leben der Menschen, z. B.
welche große Bedeutung die Musik für die Unterhaltung aller Schichten des
Volks hatte, ferner wie ungezwungen und formlos die Geselligkeit der da¬
maligen Holländer war. Auch ihre Räume mit allen Gegenstünden, die sie
erfüllten, lernen wir daraus kennen: wie sie ihre Bilder einrahmten und
hängten, wieviel gute Möbel, kunstvoll gearbeitete Büffetts und Kredenzen mit


Jan Steen und das Sittenbild der Holländer

ihre Pflicht thun, unberührt vom Geschrei der Marktes. Und bei praktischen
Maßregeln sollten die Konsequenzen sorgsam erwogen werden und Männern
des praktischen Lebens eine entscheidende Stimme zustehn. In den Volkshcil-
stüttcn ruht gewiß ein Segen; er bedarf aber sorglicher Pflege ohne übereiltes
Treiben. Von all den andern Plänen wird der Praktiker einen besonders
willkommen heißen: die Errichtung von Siechcnheimen für Schwerkranke Tuber¬
kulose, und auch dies nicht wegen der problematischen Bekämpfung der An¬
steckungsgefahr, sondern weil die übertriebne Bazillentheorie mitgeholfen hat,
dem Kranken sein Leben zu verbittern. Kein Krankenhaus will ihn behalten,
keine Siechenanstalt nimmt ihn auf, Freunde und Verwandte mit ihrer künstlich
genährten Angst vor Tuberkeln ekeln sich vor ihm, diese Angst raubt ihm fast
jede Erwerbsmöglichkeit, so führt er, wenn er mittellos ist, das elendeste Da¬
sein. Jede Woche sehe ich solche Leute vor mir, ohne ihnen anders als mit
einer kleinen Gabe helfen zu können. Ani ihres Elends willen, nicht irgend
einer unsichern Theorie zuliebe, sollte man Abhilfe schaffen. Daran hätte man
schon eher gedacht, wenn nicht wie jetzt die Verhütung der Ansteckung, so
vorher die Heilung der beginnenden Krankheit aus unfertigen Theorien heraus
das große Wort geführt hätten. Man scheide die verschiednen Aufgaben des
Forschers und des Menschenfreundes und nehme für beide: mehr Wissenschaft
und mehr Praxis!




Jan Heem und das Sittenbild der Holländer
Adolf Philipp! von

as Kleinfigurenbild mit namenlosen Personen, die nur ihre
Gattung vertreten, und die dann durch eine gegenständliche Be¬
ziehung miteinander verbunden sind, dieses Gattungs-, Gegen¬
stands- oder, wie man früher vorzugsweise sagte, Genrebild sollte
nach seiner immanenten Ästhetik oder den in der Sache liegenden
Regeln alles zu stark Individuelle vermeiden, wodurch es sich dem Porträt
nähern würde, und ebenso ein Übermaß von Handlung, alles Außergewöhn¬
liche, Einmalige, was der Historienmalerei zufällt. Das Alltägliche und in
seiner Zeit Allgemeinverständliche ist der Stoff dieses eigentümlichen Sitten¬
bildes. Denn es zeigt uns eben nicht bloß das Leben der Menschen, z. B.
welche große Bedeutung die Musik für die Unterhaltung aller Schichten des
Volks hatte, ferner wie ungezwungen und formlos die Geselligkeit der da¬
maligen Holländer war. Auch ihre Räume mit allen Gegenstünden, die sie
erfüllten, lernen wir daraus kennen: wie sie ihre Bilder einrahmten und
hängten, wieviel gute Möbel, kunstvoll gearbeitete Büffetts und Kredenzen mit


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[0630] Jan Steen und das Sittenbild der Holländer ihre Pflicht thun, unberührt vom Geschrei der Marktes. Und bei praktischen Maßregeln sollten die Konsequenzen sorgsam erwogen werden und Männern des praktischen Lebens eine entscheidende Stimme zustehn. In den Volkshcil- stüttcn ruht gewiß ein Segen; er bedarf aber sorglicher Pflege ohne übereiltes Treiben. Von all den andern Plänen wird der Praktiker einen besonders willkommen heißen: die Errichtung von Siechcnheimen für Schwerkranke Tuber¬ kulose, und auch dies nicht wegen der problematischen Bekämpfung der An¬ steckungsgefahr, sondern weil die übertriebne Bazillentheorie mitgeholfen hat, dem Kranken sein Leben zu verbittern. Kein Krankenhaus will ihn behalten, keine Siechenanstalt nimmt ihn auf, Freunde und Verwandte mit ihrer künstlich genährten Angst vor Tuberkeln ekeln sich vor ihm, diese Angst raubt ihm fast jede Erwerbsmöglichkeit, so führt er, wenn er mittellos ist, das elendeste Da¬ sein. Jede Woche sehe ich solche Leute vor mir, ohne ihnen anders als mit einer kleinen Gabe helfen zu können. Ani ihres Elends willen, nicht irgend einer unsichern Theorie zuliebe, sollte man Abhilfe schaffen. Daran hätte man schon eher gedacht, wenn nicht wie jetzt die Verhütung der Ansteckung, so vorher die Heilung der beginnenden Krankheit aus unfertigen Theorien heraus das große Wort geführt hätten. Man scheide die verschiednen Aufgaben des Forschers und des Menschenfreundes und nehme für beide: mehr Wissenschaft und mehr Praxis! Jan Heem und das Sittenbild der Holländer Adolf Philipp! von as Kleinfigurenbild mit namenlosen Personen, die nur ihre Gattung vertreten, und die dann durch eine gegenständliche Be¬ ziehung miteinander verbunden sind, dieses Gattungs-, Gegen¬ stands- oder, wie man früher vorzugsweise sagte, Genrebild sollte nach seiner immanenten Ästhetik oder den in der Sache liegenden Regeln alles zu stark Individuelle vermeiden, wodurch es sich dem Porträt nähern würde, und ebenso ein Übermaß von Handlung, alles Außergewöhn¬ liche, Einmalige, was der Historienmalerei zufällt. Das Alltägliche und in seiner Zeit Allgemeinverständliche ist der Stoff dieses eigentümlichen Sitten¬ bildes. Denn es zeigt uns eben nicht bloß das Leben der Menschen, z. B. welche große Bedeutung die Musik für die Unterhaltung aller Schichten des Volks hatte, ferner wie ungezwungen und formlos die Geselligkeit der da¬ maligen Holländer war. Auch ihre Räume mit allen Gegenstünden, die sie erfüllten, lernen wir daraus kennen: wie sie ihre Bilder einrahmten und hängten, wieviel gute Möbel, kunstvoll gearbeitete Büffetts und Kredenzen mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235171/630>, abgerufen am 28.04.2024.