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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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worden ist, kann ohne und gegen seinen Willen in seinen Rechten beschränkt,
in seiner Zusammensetzung verändert oder ganz aufgehoben werden. Er ist
-- um einen Ausdruck von Jellinek zu gebrauchen -- kein unmittelbares,
sondern ein mittelbares Staatsorgan,

9, Der Bundesrat hat in Elsaß-Lothringen zugleich die Stellung einer
ersten Kaminer und eines Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten, Ein
Kollegium von fremden Gesandten außerhalb des Landes, dessen Mitglieder
nicht einmal nach ihrer Überzeugung stimmen dürfen, sondern die Instruktionen
ihrer Regierungen befolgen müssen, übt also in elsnß-lothringischen Landes-
angelegenheiten gesetzgeberische und richterliche Befugnisse aus! Die Vertreter
von Mecklenburg-Strelitz, Neuß und Lippe können im Bundesrat über Interna
der rcichsländischen Verwaltung, z, B, über die Disziplin der reichsläudischen
Richter, die Rechtsverhältnisse der rcichsländischen Lehrer, der reichsländischen
Notariats- und Stempelgebühren abstimmen; die Vertreter von Elsaß-Lothringen
im Bundesrat haben weder in ihren speziellen Landesangelegenheiten noch in
den allgemeinen Reichsangelegenheiten ein Stimmrecht!

So bildet denu Elsaß-Lothringen hente ein merkwürdiges Zwitterding
zwischen Staat und Provinz, ans das wohl am besten der Ausdruck paßt, mit
dem einst Samuel von Pufendorf das römische Reich deutscher Nation be¬
zeichnet hat: es ist ein luoustrnm xoiitiouiu! Der Januskopf, den es in staats¬
rechtlicher Beziehung trägt, hat zur Folge, daß es gegenwärtig nicht weniger
als zehn verschiedne Theorien über die juristische Natur des Reichslands giebt.
Laband, Löning, Hänel und Ruville erklären es für eine Provinz; dagegen
halten Max von Sehdel, Leon!, Croissant, Rosenberg und Neben es für einen
Staat. Eine vermittelnde Ansicht vertrat früher Leoni und vertritt jetzt Jellinek.
Lemm nannte es ein "Staatswesen," Jellinek bezeichnet es als° "Staats¬
fragment." Im einzelnen weichen die genannten Schriftsteller wieder sehr
voneinander ab. Laband definiert das Reichsland als ein "Vermögenssubjekt,"
Löning als einen "autonomen SelbstvcrwaltungSkörpcr," Hänel als einen
"geographischen Begriff," Nuville als "säkularisiertes Kirchengut oder städtischen
Besitz," Seydel als "souveränes" Gemeinwesen, Leoni als "Monarchie," Rosen¬
berg ° als "Vasallenstaat," Neben als "staatsrechtliches Nebenland."

Es bedarf keines Beweises, daß diese Unsicherheit und Unklarheit des in
Elsaß-Lothringen geltenden Verfassungsrechts die politische Agitation dagegen
sehr begünstigen und erleichtern muß.


Z

Wie schon erwähnt worden ist, ist die Einführung des Provisoriums 1871
in Elsaß-Lothringen mit zwei Gründen gerechtfertigt worden: mit der Un¬
kenntnis der im Reichslande bestehenden politischen Zustände und mit der Un¬
kenntnis der politischen Wünsche seiner Bewohner. Beide Gründe sind längst
weggefallen. Die Frage, welche definitive Stellung das Land im Deutschen
Reiche einnehmen soll, ist heute -- nach dreißig Jahren deutscher Herrschaft --
vollkommen spruchreif. Interessant ist es nnn, daß sich in Elsaß-Lothringen


worden ist, kann ohne und gegen seinen Willen in seinen Rechten beschränkt,
in seiner Zusammensetzung verändert oder ganz aufgehoben werden. Er ist
— um einen Ausdruck von Jellinek zu gebrauchen — kein unmittelbares,
sondern ein mittelbares Staatsorgan,

9, Der Bundesrat hat in Elsaß-Lothringen zugleich die Stellung einer
ersten Kaminer und eines Gerichtshofs für kirchliche Angelegenheiten, Ein
Kollegium von fremden Gesandten außerhalb des Landes, dessen Mitglieder
nicht einmal nach ihrer Überzeugung stimmen dürfen, sondern die Instruktionen
ihrer Regierungen befolgen müssen, übt also in elsnß-lothringischen Landes-
angelegenheiten gesetzgeberische und richterliche Befugnisse aus! Die Vertreter
von Mecklenburg-Strelitz, Neuß und Lippe können im Bundesrat über Interna
der rcichsländischen Verwaltung, z, B, über die Disziplin der reichsläudischen
Richter, die Rechtsverhältnisse der rcichsländischen Lehrer, der reichsländischen
Notariats- und Stempelgebühren abstimmen; die Vertreter von Elsaß-Lothringen
im Bundesrat haben weder in ihren speziellen Landesangelegenheiten noch in
den allgemeinen Reichsangelegenheiten ein Stimmrecht!

So bildet denu Elsaß-Lothringen hente ein merkwürdiges Zwitterding
zwischen Staat und Provinz, ans das wohl am besten der Ausdruck paßt, mit
dem einst Samuel von Pufendorf das römische Reich deutscher Nation be¬
zeichnet hat: es ist ein luoustrnm xoiitiouiu! Der Januskopf, den es in staats¬
rechtlicher Beziehung trägt, hat zur Folge, daß es gegenwärtig nicht weniger
als zehn verschiedne Theorien über die juristische Natur des Reichslands giebt.
Laband, Löning, Hänel und Ruville erklären es für eine Provinz; dagegen
halten Max von Sehdel, Leon!, Croissant, Rosenberg und Neben es für einen
Staat. Eine vermittelnde Ansicht vertrat früher Leoni und vertritt jetzt Jellinek.
Lemm nannte es ein „Staatswesen," Jellinek bezeichnet es als° „Staats¬
fragment." Im einzelnen weichen die genannten Schriftsteller wieder sehr
voneinander ab. Laband definiert das Reichsland als ein „Vermögenssubjekt,"
Löning als einen „autonomen SelbstvcrwaltungSkörpcr," Hänel als einen
„geographischen Begriff," Nuville als „säkularisiertes Kirchengut oder städtischen
Besitz," Seydel als „souveränes" Gemeinwesen, Leoni als „Monarchie," Rosen¬
berg ° als „Vasallenstaat," Neben als „staatsrechtliches Nebenland."

Es bedarf keines Beweises, daß diese Unsicherheit und Unklarheit des in
Elsaß-Lothringen geltenden Verfassungsrechts die politische Agitation dagegen
sehr begünstigen und erleichtern muß.


Z

Wie schon erwähnt worden ist, ist die Einführung des Provisoriums 1871
in Elsaß-Lothringen mit zwei Gründen gerechtfertigt worden: mit der Un¬
kenntnis der im Reichslande bestehenden politischen Zustände und mit der Un¬
kenntnis der politischen Wünsche seiner Bewohner. Beide Gründe sind längst
weggefallen. Die Frage, welche definitive Stellung das Land im Deutschen
Reiche einnehmen soll, ist heute — nach dreißig Jahren deutscher Herrschaft —
vollkommen spruchreif. Interessant ist es nnn, daß sich in Elsaß-Lothringen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/279>, abgerufen am 03.05.2024.