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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Wilhelm Hertz

die näher liegenden dieser deutschen Sprachinseln schon lange mit dem ge¬
schlossenen deutschen Sprachgebiete zusammengewachsen wären, wenn nicht auch
hier die furchtbare Schwächung des deutschen Volkstums durch den Dreißig¬
jährigen und spätere Kriege dem Vordringen unsrer Nationalität für lange
Zeit ein Ziel gesetzt Hütte. Als sich später, nachdem sich das deutsche Volk
von diesen und andern schlugen erholt hatte, wieder expansive Kruste bei uns
zu regen begannen, hatten sich inzwischen weite überseeische Gebiete aufgethan,
die mit unwiderstehlicher Gewalt den Überschuß unsrer Volkskraft an sich zogen.
So gingell die Kräfte, die eine erfolgreiche Wiederaufnahme der großen
östlichen Kolonisation herbeizuführen vermocht Hütten, unwiederbringlich für
uns verloren, und nur in ganz langsamem Fortschreiten rückte bis ins neun¬
zehnte Jahrhundert hinein die deutsche Sprache nach Osten vor.




Wilhelm Hertz

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O ">err Hartmann von Ane, der ritterliche Erzähler des "Iwein,"
des "Gregorius vom Stein" und des "Armen Heinrich" steht,
als ältester Vertreter einer Dichtung mit besonderm schwäbischen
Gepräge, an der Pforte der Zeiten, in denen die Geschichte der
I deutschen Litteratur unterscheidbare Gesichter und Gestalten zu
zeigen beginnt. Ein Stück ".Heimatkunst" erscheint, lange ehe der Begriff vor¬
handen war, in ihm verkörpert. Der schwäbische Ritter, der als Kreuzfahrer
Morgenland wie Abendland gesehen, dem die Minne Liebes und Leides gethan
hat, der die Gegensätze von Gott und Welt, Herz und Leib so redlich in sich
auszugleichen sucht, der im "Armen Heinrich" die Erkenntnis verkörpert, daß
selbstlose Liebe und Treue hoch über allem Irdischen, auch über der Ehre des
Rittertums stehn, ist mit seiner ruhigen Sicherheit, seinem unbefangnen Lebens¬
mut, der Mischling von Tiefsinn und heiterm Behagen, mit seinem unerschütter¬
lichen Gefühl, daß die Welt des Maßes nicht entraten könne, und der hellen
Frende an klarer, anschaulicher, farbenreicher Darstellung schon der echte
Schwabendichter. Bis auf das Jneinanderspiel überlieferter und selbsterlebter
Poesie, überlieferter, die er sich durch sein glückliches Naturell zu eigen macht,
erlebter, der er einen Zug ins Allgemeine zu geben trachtet, bis auf das Ge¬
fühl für den geheimen Reiz und Glanz, die oft im unscheinbar Wirklichen
wohnen, zeigt sich Herr Hartmann den Heimatgenosscn verwandt und ähnlich,
die volle sechshundert Jahre nach ihm als schwäbische Dichterschule zusammen¬
geschlossen und gebucht wurden. Wundersam genug berührt es uns, wenn



Wir hatte" gehofft, dem Dichter mit diesem Aufsatz eine Freude machen zu können, da
tönt, noch ehe das Heft die Presse verlassen hat, die Trauerkunde zu uns, daß er für immer
die M>gen geschlossen hat!
Wilhelm Hertz

die näher liegenden dieser deutschen Sprachinseln schon lange mit dem ge¬
schlossenen deutschen Sprachgebiete zusammengewachsen wären, wenn nicht auch
hier die furchtbare Schwächung des deutschen Volkstums durch den Dreißig¬
jährigen und spätere Kriege dem Vordringen unsrer Nationalität für lange
Zeit ein Ziel gesetzt Hütte. Als sich später, nachdem sich das deutsche Volk
von diesen und andern schlugen erholt hatte, wieder expansive Kruste bei uns
zu regen begannen, hatten sich inzwischen weite überseeische Gebiete aufgethan,
die mit unwiderstehlicher Gewalt den Überschuß unsrer Volkskraft an sich zogen.
So gingell die Kräfte, die eine erfolgreiche Wiederaufnahme der großen
östlichen Kolonisation herbeizuführen vermocht Hütten, unwiederbringlich für
uns verloren, und nur in ganz langsamem Fortschreiten rückte bis ins neun¬
zehnte Jahrhundert hinein die deutsche Sprache nach Osten vor.




Wilhelm Hertz

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O ">err Hartmann von Ane, der ritterliche Erzähler des „Iwein,"
des „Gregorius vom Stein" und des „Armen Heinrich" steht,
als ältester Vertreter einer Dichtung mit besonderm schwäbischen
Gepräge, an der Pforte der Zeiten, in denen die Geschichte der
I deutschen Litteratur unterscheidbare Gesichter und Gestalten zu
zeigen beginnt. Ein Stück „.Heimatkunst" erscheint, lange ehe der Begriff vor¬
handen war, in ihm verkörpert. Der schwäbische Ritter, der als Kreuzfahrer
Morgenland wie Abendland gesehen, dem die Minne Liebes und Leides gethan
hat, der die Gegensätze von Gott und Welt, Herz und Leib so redlich in sich
auszugleichen sucht, der im „Armen Heinrich" die Erkenntnis verkörpert, daß
selbstlose Liebe und Treue hoch über allem Irdischen, auch über der Ehre des
Rittertums stehn, ist mit seiner ruhigen Sicherheit, seinem unbefangnen Lebens¬
mut, der Mischling von Tiefsinn und heiterm Behagen, mit seinem unerschütter¬
lichen Gefühl, daß die Welt des Maßes nicht entraten könne, und der hellen
Frende an klarer, anschaulicher, farbenreicher Darstellung schon der echte
Schwabendichter. Bis auf das Jneinanderspiel überlieferter und selbsterlebter
Poesie, überlieferter, die er sich durch sein glückliches Naturell zu eigen macht,
erlebter, der er einen Zug ins Allgemeine zu geben trachtet, bis auf das Ge¬
fühl für den geheimen Reiz und Glanz, die oft im unscheinbar Wirklichen
wohnen, zeigt sich Herr Hartmann den Heimatgenosscn verwandt und ähnlich,
die volle sechshundert Jahre nach ihm als schwäbische Dichterschule zusammen¬
geschlossen und gebucht wurden. Wundersam genug berührt es uns, wenn



Wir hatte» gehofft, dem Dichter mit diesem Aufsatz eine Freude machen zu können, da
tönt, noch ehe das Heft die Presse verlassen hat, die Trauerkunde zu uns, daß er für immer
die M>gen geschlossen hat!
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[0207] Wilhelm Hertz die näher liegenden dieser deutschen Sprachinseln schon lange mit dem ge¬ schlossenen deutschen Sprachgebiete zusammengewachsen wären, wenn nicht auch hier die furchtbare Schwächung des deutschen Volkstums durch den Dreißig¬ jährigen und spätere Kriege dem Vordringen unsrer Nationalität für lange Zeit ein Ziel gesetzt Hütte. Als sich später, nachdem sich das deutsche Volk von diesen und andern schlugen erholt hatte, wieder expansive Kruste bei uns zu regen begannen, hatten sich inzwischen weite überseeische Gebiete aufgethan, die mit unwiderstehlicher Gewalt den Überschuß unsrer Volkskraft an sich zogen. So gingell die Kräfte, die eine erfolgreiche Wiederaufnahme der großen östlichen Kolonisation herbeizuführen vermocht Hütten, unwiederbringlich für uns verloren, und nur in ganz langsamem Fortschreiten rückte bis ins neun¬ zehnte Jahrhundert hinein die deutsche Sprache nach Osten vor. Wilhelm Hertz WMi'„ O ">err Hartmann von Ane, der ritterliche Erzähler des „Iwein," des „Gregorius vom Stein" und des „Armen Heinrich" steht, als ältester Vertreter einer Dichtung mit besonderm schwäbischen Gepräge, an der Pforte der Zeiten, in denen die Geschichte der I deutschen Litteratur unterscheidbare Gesichter und Gestalten zu zeigen beginnt. Ein Stück „.Heimatkunst" erscheint, lange ehe der Begriff vor¬ handen war, in ihm verkörpert. Der schwäbische Ritter, der als Kreuzfahrer Morgenland wie Abendland gesehen, dem die Minne Liebes und Leides gethan hat, der die Gegensätze von Gott und Welt, Herz und Leib so redlich in sich auszugleichen sucht, der im „Armen Heinrich" die Erkenntnis verkörpert, daß selbstlose Liebe und Treue hoch über allem Irdischen, auch über der Ehre des Rittertums stehn, ist mit seiner ruhigen Sicherheit, seinem unbefangnen Lebens¬ mut, der Mischling von Tiefsinn und heiterm Behagen, mit seinem unerschütter¬ lichen Gefühl, daß die Welt des Maßes nicht entraten könne, und der hellen Frende an klarer, anschaulicher, farbenreicher Darstellung schon der echte Schwabendichter. Bis auf das Jneinanderspiel überlieferter und selbsterlebter Poesie, überlieferter, die er sich durch sein glückliches Naturell zu eigen macht, erlebter, der er einen Zug ins Allgemeine zu geben trachtet, bis auf das Ge¬ fühl für den geheimen Reiz und Glanz, die oft im unscheinbar Wirklichen wohnen, zeigt sich Herr Hartmann den Heimatgenosscn verwandt und ähnlich, die volle sechshundert Jahre nach ihm als schwäbische Dichterschule zusammen¬ geschlossen und gebucht wurden. Wundersam genug berührt es uns, wenn Wir hatte» gehofft, dem Dichter mit diesem Aufsatz eine Freude machen zu können, da tönt, noch ehe das Heft die Presse verlassen hat, die Trauerkunde zu uns, daß er für immer die M>gen geschlossen hat!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/207>, abgerufen am 28.04.2024.