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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Sie österreichische Staatskrise

pvnierm, sondern sie selbst tragen wesentlich die Schuld. Von dem starken
nationalen Selbstgefühl, das die Italiener Argentiniens beseelt, ist bei ihnen
gar keine Rede; sie veramerikanern deshalb in der zweiten, spätestens dritten
Generation, trotz aller Sing- und Turm- und Kriegervereine; ja sie sind nicht
nnr stolz darauf, loyale Bürger ihres "Adoptivvaterlands" zu sein, als die
sie allerdings zu unsern gefährlichsten Konkurrenten geworden sind, sondern sie
sehen auch oft genug mit Geringschätzung auf die "engen" Verhältnisse der alten
Heimat herab, die freilich den Staatsbegriff und die Staatspflichten ernster
und strenger faßt, als es der republikanischen "Freiheit" drüben bequem ist.
Die Deutschen sind im Bürgerkrieg 1861 bis 1865 die besten Soldaten der
Union gewesen, aber ihr politischer Einfluß charakterisiert sich dadurch, daß
sie bisher einen einzigen Deutschen in den Senat gebracht haben. Was da
drüben entsteht, das ist ein wesentlich angelsächsisch-deutsches Mischvolk, dem
die Angelsachen das politische und das Sprachgepräge geben, und eine Kultur,
die durch eine starke Beimischung deutschen Geistes mit bestimmt wird, aber
für das Mutterland und für das deutsche Volkstum sind alle diese Millionen
Deutscher verloren. Das alles ist für uns sehr traurig und beschämend, aber
es ist so, über diese Ergebnisse unsers Volkscharakters und unheilbarer Ver¬
säumnisse sollen wir uns wenigstens nicht täuschen.


Gelo Raemmel


Die österreichische Htaatskrise
von Julius Patzelt

cum G
raf Eduard Taaffe heute noch lebte, so würde er sich
vergnügt über seine Spötter die Hände reiben. Wie hat man
den Mann, der auch in den schwierigsten Situationen nie seine
gute Laune verlor, gehaßt und verspottet, als er einmal im
Parlament davon sprach, daß er eben "fortwursteln" müsse.
Kleinere, viel kleinere als er haben ihm darum jede staatsmännische Qualität
abgesprochen, und doch hatte er nur den Mut, auch offen auszusprechen, was
schon alle seine Vorgänger gethan hatten, und was seine Nachfolger nicht
einmal mehr tonnen. Graf Taaffe hatte das Programm des "Fortwurstelns"
mahl erfunden. Schon das Bürgerministerium "wurstelte," als die kurzeu
Mtterwocheu der konstitutionellen Ära vorüber waren, und das Ministerium
Auersperg II "wurstelte" erst recht, bis ihm die eigne Partei, die Deutsch¬
liberalen auch das schließlich unmöglich gemacht hatten. Taaffe brachte wenigstens
das Kunststück zustande, sich auf diese Weise vierzehn Jahre zu halten. Man
mag mit vielem, was unter dem Ministerium Taaffe geschehn ist, nicht ein¬
verstanden sein, man mag manche seiner Maßnahmen, man mag seine ganze
Taktik verurteilen, aber die Fehler der Taaffischen Politik lagen nicht in


Sie österreichische Staatskrise

pvnierm, sondern sie selbst tragen wesentlich die Schuld. Von dem starken
nationalen Selbstgefühl, das die Italiener Argentiniens beseelt, ist bei ihnen
gar keine Rede; sie veramerikanern deshalb in der zweiten, spätestens dritten
Generation, trotz aller Sing- und Turm- und Kriegervereine; ja sie sind nicht
nnr stolz darauf, loyale Bürger ihres „Adoptivvaterlands" zu sein, als die
sie allerdings zu unsern gefährlichsten Konkurrenten geworden sind, sondern sie
sehen auch oft genug mit Geringschätzung auf die „engen" Verhältnisse der alten
Heimat herab, die freilich den Staatsbegriff und die Staatspflichten ernster
und strenger faßt, als es der republikanischen „Freiheit" drüben bequem ist.
Die Deutschen sind im Bürgerkrieg 1861 bis 1865 die besten Soldaten der
Union gewesen, aber ihr politischer Einfluß charakterisiert sich dadurch, daß
sie bisher einen einzigen Deutschen in den Senat gebracht haben. Was da
drüben entsteht, das ist ein wesentlich angelsächsisch-deutsches Mischvolk, dem
die Angelsachen das politische und das Sprachgepräge geben, und eine Kultur,
die durch eine starke Beimischung deutschen Geistes mit bestimmt wird, aber
für das Mutterland und für das deutsche Volkstum sind alle diese Millionen
Deutscher verloren. Das alles ist für uns sehr traurig und beschämend, aber
es ist so, über diese Ergebnisse unsers Volkscharakters und unheilbarer Ver¬
säumnisse sollen wir uns wenigstens nicht täuschen.


Gelo Raemmel


Die österreichische Htaatskrise
von Julius Patzelt

cum G
raf Eduard Taaffe heute noch lebte, so würde er sich
vergnügt über seine Spötter die Hände reiben. Wie hat man
den Mann, der auch in den schwierigsten Situationen nie seine
gute Laune verlor, gehaßt und verspottet, als er einmal im
Parlament davon sprach, daß er eben „fortwursteln" müsse.
Kleinere, viel kleinere als er haben ihm darum jede staatsmännische Qualität
abgesprochen, und doch hatte er nur den Mut, auch offen auszusprechen, was
schon alle seine Vorgänger gethan hatten, und was seine Nachfolger nicht
einmal mehr tonnen. Graf Taaffe hatte das Programm des „Fortwurstelns"
mahl erfunden. Schon das Bürgerministerium „wurstelte," als die kurzeu
Mtterwocheu der konstitutionellen Ära vorüber waren, und das Ministerium
Auersperg II „wurstelte" erst recht, bis ihm die eigne Partei, die Deutsch¬
liberalen auch das schließlich unmöglich gemacht hatten. Taaffe brachte wenigstens
das Kunststück zustande, sich auf diese Weise vierzehn Jahre zu halten. Man
mag mit vielem, was unter dem Ministerium Taaffe geschehn ist, nicht ein¬
verstanden sein, man mag manche seiner Maßnahmen, man mag seine ganze
Taktik verurteilen, aber die Fehler der Taaffischen Politik lagen nicht in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/301>, abgerufen am 28.04.2024.