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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Molfenbüttel und Lessings Lulua Galotti

kenntnisvermögens hervorgehn, die Weisheit und ihre Verwandtinnen. vermitteln
das höchste Glück, dessen der Mensch fähig ist, das Schallen der Wahrheit.
Doch lehrt er die Güter niedrer Ordnung nicht verachten, sondern als Mittel
zur Erringung der höchsten Güter innerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit
und Müßigung erstreben und verstündig gebrauchen. Hatte Piano die unge¬
ordnete Selbstliebe als die Wurzel alles Bösen erkannt, so lehrte Aristoteles
genauer, daß die geordnete Selbstliebe mit der pflichtmüßigen Sorge für die
andern identisch sei und die Aufopferung für Freunde und Vaterland nicht
aus- sondern einschließe. Von der Ehe hat er den würdigsten Begriff. Der
Naturtrieb zwar führe die Gatten zusammen, aber ihre Verbindung solle den
sittlichen Charakter der Freundschaft, des Wohlwollens und der gegenseitigen
Dienstleistung annehmen. Indem Mann lind Weib in einigen: gleich, in anderm
verschieden sind, sind sie ergünzungsbedürftig, zugleich aber befähigt, die Er¬
gänzung durch freie Vereinigung zu vollziehn. Wo die Weiber Sklavinnen
sind. da. meint Aristoteles, sind auch die Männer Sklaven, denn der Freie
kann nur mit einem Freien Verbindungen eingehn.

Es braucht nicht ausführlich nachgewiesen zu werden, daß der Gedanken¬
kreis der drei großen Hellenen den ganzen Stoff für die christliche Theologie
und die idealistische Philosophie der christlichen Zeit enthält. Auch die Grund-
züge einer Abfall- und Erlösungslehre fehlen nicht, wenn sie auch mehr auf
die gnostische als auf die paulinische Ausgestaltung hinweisen. Daß namentlich
die Philosophie Platos voller Unklarheiten, Widersprüche und ungelöster Pro¬
bleme ist, werden wir ihr nicht als Sünde anrechnen; der Mann hat wahrlich
genug geleistet, der alle die Probleme aufgestellt und alle die Widersprüche
aufgedeckt hat, an deren Lösung sich die Philosophen bis heute vergebens ab¬
arbeiten. Was Aristoteles als Begründer der Einzelwissenschaften geleistet hat.
gehört nicht zu unserm Thema; deshalb hatten wir auch die in gleicher Richtung
tätigen unter den griechischen Philosophen und Gelehrten, wie die Pythagorüer,
Demokrit und die großen Mathematiker, Astronomen und Geographen über¬
haupt nicht zu erwähnen.




IVolfenbüttel und Lessings Gallia Galotti
von C>. von Heine manu

or kurzem hat die Frankfurter Zeitung in ihrem Feuilleton
(Ur. 312 und 314) einen Aufsatz von Robert Kohlrausch
(München) unter dem Titel: "In Emilia Galottis Heimat.
Bilder aus Wolfenbüttel und Guastalla" veröffentlicht. Dieser
-I Aufsatz zieht eine Parallele zwischen den beiden genannten
Städten, die landschaftlich wie geschichtlich wenig oder gar nichts miteinander
gemein haben. Daß beide zu den kleinern Städten gehören, daß sie "einsam
und still" sind, berechtigt doch schwerlich zu einer solchen Vergleichung. und


Molfenbüttel und Lessings Lulua Galotti

kenntnisvermögens hervorgehn, die Weisheit und ihre Verwandtinnen. vermitteln
das höchste Glück, dessen der Mensch fähig ist, das Schallen der Wahrheit.
Doch lehrt er die Güter niedrer Ordnung nicht verachten, sondern als Mittel
zur Erringung der höchsten Güter innerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit
und Müßigung erstreben und verstündig gebrauchen. Hatte Piano die unge¬
ordnete Selbstliebe als die Wurzel alles Bösen erkannt, so lehrte Aristoteles
genauer, daß die geordnete Selbstliebe mit der pflichtmüßigen Sorge für die
andern identisch sei und die Aufopferung für Freunde und Vaterland nicht
aus- sondern einschließe. Von der Ehe hat er den würdigsten Begriff. Der
Naturtrieb zwar führe die Gatten zusammen, aber ihre Verbindung solle den
sittlichen Charakter der Freundschaft, des Wohlwollens und der gegenseitigen
Dienstleistung annehmen. Indem Mann lind Weib in einigen: gleich, in anderm
verschieden sind, sind sie ergünzungsbedürftig, zugleich aber befähigt, die Er¬
gänzung durch freie Vereinigung zu vollziehn. Wo die Weiber Sklavinnen
sind. da. meint Aristoteles, sind auch die Männer Sklaven, denn der Freie
kann nur mit einem Freien Verbindungen eingehn.

Es braucht nicht ausführlich nachgewiesen zu werden, daß der Gedanken¬
kreis der drei großen Hellenen den ganzen Stoff für die christliche Theologie
und die idealistische Philosophie der christlichen Zeit enthält. Auch die Grund-
züge einer Abfall- und Erlösungslehre fehlen nicht, wenn sie auch mehr auf
die gnostische als auf die paulinische Ausgestaltung hinweisen. Daß namentlich
die Philosophie Platos voller Unklarheiten, Widersprüche und ungelöster Pro¬
bleme ist, werden wir ihr nicht als Sünde anrechnen; der Mann hat wahrlich
genug geleistet, der alle die Probleme aufgestellt und alle die Widersprüche
aufgedeckt hat, an deren Lösung sich die Philosophen bis heute vergebens ab¬
arbeiten. Was Aristoteles als Begründer der Einzelwissenschaften geleistet hat.
gehört nicht zu unserm Thema; deshalb hatten wir auch die in gleicher Richtung
tätigen unter den griechischen Philosophen und Gelehrten, wie die Pythagorüer,
Demokrit und die großen Mathematiker, Astronomen und Geographen über¬
haupt nicht zu erwähnen.




IVolfenbüttel und Lessings Gallia Galotti
von C>. von Heine manu

or kurzem hat die Frankfurter Zeitung in ihrem Feuilleton
(Ur. 312 und 314) einen Aufsatz von Robert Kohlrausch
(München) unter dem Titel: „In Emilia Galottis Heimat.
Bilder aus Wolfenbüttel und Guastalla" veröffentlicht. Dieser
-I Aufsatz zieht eine Parallele zwischen den beiden genannten
Städten, die landschaftlich wie geschichtlich wenig oder gar nichts miteinander
gemein haben. Daß beide zu den kleinern Städten gehören, daß sie „einsam
und still» sind, berechtigt doch schwerlich zu einer solchen Vergleichung. und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/319>, abgerufen am 28.04.2024.