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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Was wir lesen

it der Jahr für Jahr steigenden Flut der Romane und der
Dichtungen, der belehrenden und der unterhaltenden Werke aus
allen Fächern des Wissens wächst für eine Wochenschrift, die
ihren Lesern eine gewissenhafte Beraterin sein möchte, die Schwierig¬
keit der Aufgabe. Die Tageszeitungen haben schon lange stehende
Rubriken mit Berichten, die jedes Buch mit einigen Zeilen und in immer
wiederkehrenden Wendungen abthun, erweiterte Buchhändleranzeigeu also, An¬
kündigungen und Empfehlungen aus gutem Glauben, denn zum Lesen und
vollends zum Abfassen begründeter Urteile reicht jn keines Berichterstatters
Zeit mehr hin, auch die meisten periodischen Journale begnügen sich mehr und
mehr mit Anzeigen, zu deren Herstellung es der Lektüre eines Buchs nicht be¬
darf, und die eigentlichen Nezensionsblütter sind schon, um für möglichst vieles
Raum zu schaffen, genötigt, ihre Artikel immer knapper zu fassen. Die Grenz¬
boten haben sich jederzeit bemüht, in ihren Bücherbesprechungen den Lesern
möglichst viel zu geben, nicht nur Urteile, sondern auch Mitteilungen aus dem
Inhalt, sie haben lieber weniges ausführlich, als vieles oberflächlich behandeln
wollen, und sie haben das Gute gesucht, wo es nur zu finden war, sich das
Schlechte aber und das Mittelmäßige und Unbedeutende uach Möglichkeit fern
gehalten. Sie haben die Freude gehabt, sich oftmals verstanden zu sehen und
manchmal auch etwas Nützliches zu stiften, und das soll, so hoffen wir, auch
hinfort geschehn. Allen es recht zu machen, ist unmöglich; ein Blatt wie das
unsre soll etwas wie eine Person sein, ein Mensch mit seinem Willen und
mich mit seinen Schwächen. Unsre Freunde werden uns zu finden wissen, und
wir wollen uns zu den alten neue erwerben. Diesen möchten wir vor allem
gern sagen, was sie von uns an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts zu er¬
warten haben.

Was wir also lesen? Zunächst mindestens zehn-, zwanzig-und dreißigmal
"lehr, als worüber wir zu schreiben uns schließlich anschicken, denn alles, auch
was uns der Zufall auf den Tisch wirft, sehen wir, wenn es uicht gar zu
einfältig ist, wenigstens mit Aufmerksamkeit durch. Nun ließe sich schlechtes,
lächerliches Zeug leicht abschlachten, manchmal in recht lustiger Weise, aber
was hätte der Leser davon? Wo sich das Angehörige einmal zu weit vor¬
hängt und durch laute Unverschämtheit Schaden anrichten konnte, mag mancher
gegenüber einer rechtschaffnen Abfertigung ein Gefühl von Genugthuung haben,
dus besser ist als Schadenfreude, aber im ganzen ist es kein sehr edles Ver¬
zügen, sich auf eines andern Kosten zu belustigen, und lauge wird kein ernst¬
haftes Publikum an solchen Scherzen Gefallen finden. Auch die Kritik über¬
haupt, die sachliche, wenn sie bloß zu tadeln hat, nützt vielleicht in einzelnen




Was wir lesen

it der Jahr für Jahr steigenden Flut der Romane und der
Dichtungen, der belehrenden und der unterhaltenden Werke aus
allen Fächern des Wissens wächst für eine Wochenschrift, die
ihren Lesern eine gewissenhafte Beraterin sein möchte, die Schwierig¬
keit der Aufgabe. Die Tageszeitungen haben schon lange stehende
Rubriken mit Berichten, die jedes Buch mit einigen Zeilen und in immer
wiederkehrenden Wendungen abthun, erweiterte Buchhändleranzeigeu also, An¬
kündigungen und Empfehlungen aus gutem Glauben, denn zum Lesen und
vollends zum Abfassen begründeter Urteile reicht jn keines Berichterstatters
Zeit mehr hin, auch die meisten periodischen Journale begnügen sich mehr und
mehr mit Anzeigen, zu deren Herstellung es der Lektüre eines Buchs nicht be¬
darf, und die eigentlichen Nezensionsblütter sind schon, um für möglichst vieles
Raum zu schaffen, genötigt, ihre Artikel immer knapper zu fassen. Die Grenz¬
boten haben sich jederzeit bemüht, in ihren Bücherbesprechungen den Lesern
möglichst viel zu geben, nicht nur Urteile, sondern auch Mitteilungen aus dem
Inhalt, sie haben lieber weniges ausführlich, als vieles oberflächlich behandeln
wollen, und sie haben das Gute gesucht, wo es nur zu finden war, sich das
Schlechte aber und das Mittelmäßige und Unbedeutende uach Möglichkeit fern
gehalten. Sie haben die Freude gehabt, sich oftmals verstanden zu sehen und
manchmal auch etwas Nützliches zu stiften, und das soll, so hoffen wir, auch
hinfort geschehn. Allen es recht zu machen, ist unmöglich; ein Blatt wie das
unsre soll etwas wie eine Person sein, ein Mensch mit seinem Willen und
mich mit seinen Schwächen. Unsre Freunde werden uns zu finden wissen, und
wir wollen uns zu den alten neue erwerben. Diesen möchten wir vor allem
gern sagen, was sie von uns an der Schwelle eines neuen Jahrzehnts zu er¬
warten haben.

Was wir also lesen? Zunächst mindestens zehn-, zwanzig-und dreißigmal
»lehr, als worüber wir zu schreiben uns schließlich anschicken, denn alles, auch
was uns der Zufall auf den Tisch wirft, sehen wir, wenn es uicht gar zu
einfältig ist, wenigstens mit Aufmerksamkeit durch. Nun ließe sich schlechtes,
lächerliches Zeug leicht abschlachten, manchmal in recht lustiger Weise, aber
was hätte der Leser davon? Wo sich das Angehörige einmal zu weit vor¬
hängt und durch laute Unverschämtheit Schaden anrichten konnte, mag mancher
gegenüber einer rechtschaffnen Abfertigung ein Gefühl von Genugthuung haben,
dus besser ist als Schadenfreude, aber im ganzen ist es kein sehr edles Ver¬
zügen, sich auf eines andern Kosten zu belustigen, und lauge wird kein ernst¬
haftes Publikum an solchen Scherzen Gefallen finden. Auch die Kritik über¬
haupt, die sachliche, wenn sie bloß zu tadeln hat, nützt vielleicht in einzelnen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/35>, abgerufen am 29.04.2024.