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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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vom ehemaligen Königreich Hannover

Tage gefördert werden, die zu Zusammenstößen führen, die allerdings nicht
auf dem Gebiete der naifs et inorss liegen, ist unausbleiblich; sie lassen aber
auch das fördernde Prinzip der modernen Auffassung der Dinge klar hervor¬
treten. In solchen Fällen handelt die Kurie mit außerordentlicher Klugheit.
Es widerstrebt ihr, sich rückhaltlos vom liebgewordnen Alten zu trennen; sie
spitzt die entstehenden Fragen in der Behandlung jedoch nie so zu, daß es zu
offnem Streite kommt, sondern läßt die Dinge nach einigen vergeblichen Ver¬
suchen, mit ihrer Auffassung durchzuringen, gehn. Diese Abneigung, sich sofort
zu ergeben, wenn neue Gedanken an die Kurie herantreten, hat eine in hohem
Grade prophylaktische Bedeutung; sie wird dadurch vor der hastigen Aufnahme
noch unreifer und vielleicht nicht einmal guter neuer Gedanken bewahrt, was
bei der weltumspannenden Organisation der Kirche von einschneidender Be¬
deutung ist. Langsam und unter stetem Drängen voran zu schreiten, ist viel
logischer und hat größere innere Berechtigung, als enthusiastisch", praktische
Parteinahme für alles Neue, das noch nicht einmal eine größere Probezeit
hinter sich hat. Das alles kann aber nicht hindern auszusprechen, daß zahl¬
reiche Einrichtungen der kurialem Verwaltung gegenwärtig unter bedenklichen
Anachronismen innerer wie äußerer Art leiden, an die bald die bessernde Hand
gelegt werden muß. Der tiefere treibende Grund einer solchen Stellungnahme
ist in der grundlegenden Veründrung der allgemeinen menschlichen Lebens¬
bedingungen zu suchen, die sich seit vierzig Jahren in völlig abschließender
Weise vollzogen hat.




Vom ehemaligen Königreich Hannover
2

König Ernst August hatte den großen Anstoß seines Lebens,
"M^^^M den Staatsstreich von 1837, wieder gut gemacht und lebte mit
^"^"'M^ seinem Volke in Frieden. Die durch das Staatsgrnndgesctz von
1833 gewährleistete Vereinigung der landesherrlichen .Kanuner
"W^^ssl lasse und der ständischen Gcncralsteuerknsse war durch eine Novelle
vom 5. September 1848 wiederhergestellt und damit das Budgetbewilligungs¬
recht der Stündekammern wieder anerkannt worden. Aber zu der Veröffent¬
lichung der neuen Organisationsgesetze, die fertig in seinem verschlossenen
Schreibtische lagen, konnte er sich nicht entschließen; sie erfolgte dann, wie wir
gesehen haben, unter seinem Nachfolger 1852. Der alte König glaubte, daß
diese Gesetze viel zu weit gingen, und er fürchtete die "Conseqneutia"; ersah,
daß daran nichts mehr geändert werden konnte, aber er selbst wollte die
Neuerung nicht erleben. Als er am 18. November 1851 die Augen schloß,
sechs Monate nach einer überaus befriedigend verlaufneu, glanzvollen Feier
seines einundachtzigsten Geburtstags, war er, wie Hasselt mit Recht sagt, aus


vom ehemaligen Königreich Hannover

Tage gefördert werden, die zu Zusammenstößen führen, die allerdings nicht
auf dem Gebiete der naifs et inorss liegen, ist unausbleiblich; sie lassen aber
auch das fördernde Prinzip der modernen Auffassung der Dinge klar hervor¬
treten. In solchen Fällen handelt die Kurie mit außerordentlicher Klugheit.
Es widerstrebt ihr, sich rückhaltlos vom liebgewordnen Alten zu trennen; sie
spitzt die entstehenden Fragen in der Behandlung jedoch nie so zu, daß es zu
offnem Streite kommt, sondern läßt die Dinge nach einigen vergeblichen Ver¬
suchen, mit ihrer Auffassung durchzuringen, gehn. Diese Abneigung, sich sofort
zu ergeben, wenn neue Gedanken an die Kurie herantreten, hat eine in hohem
Grade prophylaktische Bedeutung; sie wird dadurch vor der hastigen Aufnahme
noch unreifer und vielleicht nicht einmal guter neuer Gedanken bewahrt, was
bei der weltumspannenden Organisation der Kirche von einschneidender Be¬
deutung ist. Langsam und unter stetem Drängen voran zu schreiten, ist viel
logischer und hat größere innere Berechtigung, als enthusiastisch«, praktische
Parteinahme für alles Neue, das noch nicht einmal eine größere Probezeit
hinter sich hat. Das alles kann aber nicht hindern auszusprechen, daß zahl¬
reiche Einrichtungen der kurialem Verwaltung gegenwärtig unter bedenklichen
Anachronismen innerer wie äußerer Art leiden, an die bald die bessernde Hand
gelegt werden muß. Der tiefere treibende Grund einer solchen Stellungnahme
ist in der grundlegenden Veründrung der allgemeinen menschlichen Lebens¬
bedingungen zu suchen, die sich seit vierzig Jahren in völlig abschließender
Weise vollzogen hat.




Vom ehemaligen Königreich Hannover
2

König Ernst August hatte den großen Anstoß seines Lebens,
»M^^^M den Staatsstreich von 1837, wieder gut gemacht und lebte mit
^»^«'M^ seinem Volke in Frieden. Die durch das Staatsgrnndgesctz von
1833 gewährleistete Vereinigung der landesherrlichen .Kanuner
»W^^ssl lasse und der ständischen Gcncralsteuerknsse war durch eine Novelle
vom 5. September 1848 wiederhergestellt und damit das Budgetbewilligungs¬
recht der Stündekammern wieder anerkannt worden. Aber zu der Veröffent¬
lichung der neuen Organisationsgesetze, die fertig in seinem verschlossenen
Schreibtische lagen, konnte er sich nicht entschließen; sie erfolgte dann, wie wir
gesehen haben, unter seinem Nachfolger 1852. Der alte König glaubte, daß
diese Gesetze viel zu weit gingen, und er fürchtete die „Conseqneutia"; ersah,
daß daran nichts mehr geändert werden konnte, aber er selbst wollte die
Neuerung nicht erleben. Als er am 18. November 1851 die Augen schloß,
sechs Monate nach einer überaus befriedigend verlaufneu, glanzvollen Feier
seines einundachtzigsten Geburtstags, war er, wie Hasselt mit Recht sagt, aus


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[0414] vom ehemaligen Königreich Hannover Tage gefördert werden, die zu Zusammenstößen führen, die allerdings nicht auf dem Gebiete der naifs et inorss liegen, ist unausbleiblich; sie lassen aber auch das fördernde Prinzip der modernen Auffassung der Dinge klar hervor¬ treten. In solchen Fällen handelt die Kurie mit außerordentlicher Klugheit. Es widerstrebt ihr, sich rückhaltlos vom liebgewordnen Alten zu trennen; sie spitzt die entstehenden Fragen in der Behandlung jedoch nie so zu, daß es zu offnem Streite kommt, sondern läßt die Dinge nach einigen vergeblichen Ver¬ suchen, mit ihrer Auffassung durchzuringen, gehn. Diese Abneigung, sich sofort zu ergeben, wenn neue Gedanken an die Kurie herantreten, hat eine in hohem Grade prophylaktische Bedeutung; sie wird dadurch vor der hastigen Aufnahme noch unreifer und vielleicht nicht einmal guter neuer Gedanken bewahrt, was bei der weltumspannenden Organisation der Kirche von einschneidender Be¬ deutung ist. Langsam und unter stetem Drängen voran zu schreiten, ist viel logischer und hat größere innere Berechtigung, als enthusiastisch«, praktische Parteinahme für alles Neue, das noch nicht einmal eine größere Probezeit hinter sich hat. Das alles kann aber nicht hindern auszusprechen, daß zahl¬ reiche Einrichtungen der kurialem Verwaltung gegenwärtig unter bedenklichen Anachronismen innerer wie äußerer Art leiden, an die bald die bessernde Hand gelegt werden muß. Der tiefere treibende Grund einer solchen Stellungnahme ist in der grundlegenden Veründrung der allgemeinen menschlichen Lebens¬ bedingungen zu suchen, die sich seit vierzig Jahren in völlig abschließender Weise vollzogen hat. Vom ehemaligen Königreich Hannover 2 König Ernst August hatte den großen Anstoß seines Lebens, »M^^^M den Staatsstreich von 1837, wieder gut gemacht und lebte mit ^»^«'M^ seinem Volke in Frieden. Die durch das Staatsgrnndgesctz von 1833 gewährleistete Vereinigung der landesherrlichen .Kanuner »W^^ssl lasse und der ständischen Gcncralsteuerknsse war durch eine Novelle vom 5. September 1848 wiederhergestellt und damit das Budgetbewilligungs¬ recht der Stündekammern wieder anerkannt worden. Aber zu der Veröffent¬ lichung der neuen Organisationsgesetze, die fertig in seinem verschlossenen Schreibtische lagen, konnte er sich nicht entschließen; sie erfolgte dann, wie wir gesehen haben, unter seinem Nachfolger 1852. Der alte König glaubte, daß diese Gesetze viel zu weit gingen, und er fürchtete die „Conseqneutia"; ersah, daß daran nichts mehr geändert werden konnte, aber er selbst wollte die Neuerung nicht erleben. Als er am 18. November 1851 die Augen schloß, sechs Monate nach einer überaus befriedigend verlaufneu, glanzvollen Feier seines einundachtzigsten Geburtstags, war er, wie Hasselt mit Recht sagt, aus

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/414>, abgerufen am 29.04.2024.