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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Nationalitätskämpfe

und die Redekunst geholt haben. Endlich waren die über das ganze Römer¬
reich verstreuten Synagogengemeinden die Vorbilder und zugleich die Aus¬
gangspunkte für die Gemeindegründung, der auch die Hetürien von armen
Leuten, von Kleinbürgern und Sklaven: gesellige, Unterstützungs-, Bestattungs-
vereine, hier und da als Rahmen gedient haben mögen. Ob dieser "prole¬
tarischen" Organisation eine ganz so hohe Bedeutung zukommt, wie ihr sozia¬
listische Geschichtsklitterer beilegen, ist freilich zweifelhaft. Hase, den Mommsen
auf diese Vereine aufmerksam gemacht hat, schreibt im Vorwort zur zehnte"
Auflage seiner Kirchengeschichte (1877): "Die Sache ist an sich nicht unwahr¬
scheinlich, doch kenne ich keine bestimmte Erweisung derselben außer in Rom
selbst die Leichensozietäten, durch die sich arme Leute eine anstündige Bestattung
sicherten, und uuter denen die Christen Gelegenheit fanden, sich zu verbergen."




Nationalitätskämpfe
Z. Ursachen und Arten der Verschiebung der Sprachgrenzen

MWÜberall, wo Sprachgrenzen verschoben, Sprachgebiete eingeengt
oder ganz vom Erdboden verdrängt worden sind, ist Wandrung,
Niederlassung und Entnationalisierung die Ursache dazu gewesen.

Unter den Ursachen, durch die Wandrungen hervorgerufen
werden können, stehn die wirtschaftlichen unbedingt im Vorder¬
gründe. Bei unsern modernen Bevölkerungsumlagerungcn, die mit ihren ge¬
waltigen sich Jahr für Jahr summierenden Zahlen die Völkerwandrungen des
beginnenden Mittelalters weit hinter sich lassen, ist dies von vornherein klar:
das Streben nach Erwerb, nach einer wirtschaftlich gesicherten Zukunft ist es,
was in jedem Jahre Tausende und aber Tausende unsrer Volksgenossen ver¬
anlaßt, zum Wanderstabe zu greifen, um teils innerhalb des Volksgebiets,
teils in fremdem Sprachgebiet oder gar über dem Weltmeer einen neuen
Wirkungskreis zu suchen. Aber die Völkerwcmdrung ist, so sehr sie sich von
den modernen Massenwandrungen unterscheidet, doch anch durch einen Anstoß
wirtschaftlicher Art entfesselt worden: das Nomadenvolk der Hunnen bedürfte
neuer Weidegründe, und auf der Suche nach ihnen stieß es auf die Völker
Europas, sie aufscheuchend aus ihren angestammten Sitzen zu ruhelosen
Wandern, bis sie in den entlegnen Halbinseln West- und Südeuropas, sogar
in Afrika eine neue Heimat und zugleich das Grab ihres dahinschwindenden
Volkstums fanden.

Auch politische Umwälzungen -- ich erinnere an die französischen Emi¬
granten der Revolutionszeit --, religiöse Bedrängnisse -- ich nenne die
Waldenser und Hugenotten -- können merkliche Wnndrnngen hervorrufen:
die Erweiterung des Staats kann es bewirken, daß Teile der im eroberten
Gebiete heimischen Bevölkerung abströmen und dagegen aus dem Gebiet der


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und die Redekunst geholt haben. Endlich waren die über das ganze Römer¬
reich verstreuten Synagogengemeinden die Vorbilder und zugleich die Aus¬
gangspunkte für die Gemeindegründung, der auch die Hetürien von armen
Leuten, von Kleinbürgern und Sklaven: gesellige, Unterstützungs-, Bestattungs-
vereine, hier und da als Rahmen gedient haben mögen. Ob dieser „prole¬
tarischen" Organisation eine ganz so hohe Bedeutung zukommt, wie ihr sozia¬
listische Geschichtsklitterer beilegen, ist freilich zweifelhaft. Hase, den Mommsen
auf diese Vereine aufmerksam gemacht hat, schreibt im Vorwort zur zehnte«
Auflage seiner Kirchengeschichte (1877): „Die Sache ist an sich nicht unwahr¬
scheinlich, doch kenne ich keine bestimmte Erweisung derselben außer in Rom
selbst die Leichensozietäten, durch die sich arme Leute eine anstündige Bestattung
sicherten, und uuter denen die Christen Gelegenheit fanden, sich zu verbergen."




Nationalitätskämpfe
Z. Ursachen und Arten der Verschiebung der Sprachgrenzen

MWÜberall, wo Sprachgrenzen verschoben, Sprachgebiete eingeengt
oder ganz vom Erdboden verdrängt worden sind, ist Wandrung,
Niederlassung und Entnationalisierung die Ursache dazu gewesen.

Unter den Ursachen, durch die Wandrungen hervorgerufen
werden können, stehn die wirtschaftlichen unbedingt im Vorder¬
gründe. Bei unsern modernen Bevölkerungsumlagerungcn, die mit ihren ge¬
waltigen sich Jahr für Jahr summierenden Zahlen die Völkerwandrungen des
beginnenden Mittelalters weit hinter sich lassen, ist dies von vornherein klar:
das Streben nach Erwerb, nach einer wirtschaftlich gesicherten Zukunft ist es,
was in jedem Jahre Tausende und aber Tausende unsrer Volksgenossen ver¬
anlaßt, zum Wanderstabe zu greifen, um teils innerhalb des Volksgebiets,
teils in fremdem Sprachgebiet oder gar über dem Weltmeer einen neuen
Wirkungskreis zu suchen. Aber die Völkerwcmdrung ist, so sehr sie sich von
den modernen Massenwandrungen unterscheidet, doch anch durch einen Anstoß
wirtschaftlicher Art entfesselt worden: das Nomadenvolk der Hunnen bedürfte
neuer Weidegründe, und auf der Suche nach ihnen stieß es auf die Völker
Europas, sie aufscheuchend aus ihren angestammten Sitzen zu ruhelosen
Wandern, bis sie in den entlegnen Halbinseln West- und Südeuropas, sogar
in Afrika eine neue Heimat und zugleich das Grab ihres dahinschwindenden
Volkstums fanden.

Auch politische Umwälzungen — ich erinnere an die französischen Emi¬
granten der Revolutionszeit —, religiöse Bedrängnisse — ich nenne die
Waldenser und Hugenotten — können merkliche Wnndrnngen hervorrufen:
die Erweiterung des Staats kann es bewirken, daß Teile der im eroberten
Gebiete heimischen Bevölkerung abströmen und dagegen aus dem Gebiet der


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[0492] Nationalitätskämpfe und die Redekunst geholt haben. Endlich waren die über das ganze Römer¬ reich verstreuten Synagogengemeinden die Vorbilder und zugleich die Aus¬ gangspunkte für die Gemeindegründung, der auch die Hetürien von armen Leuten, von Kleinbürgern und Sklaven: gesellige, Unterstützungs-, Bestattungs- vereine, hier und da als Rahmen gedient haben mögen. Ob dieser „prole¬ tarischen" Organisation eine ganz so hohe Bedeutung zukommt, wie ihr sozia¬ listische Geschichtsklitterer beilegen, ist freilich zweifelhaft. Hase, den Mommsen auf diese Vereine aufmerksam gemacht hat, schreibt im Vorwort zur zehnte« Auflage seiner Kirchengeschichte (1877): „Die Sache ist an sich nicht unwahr¬ scheinlich, doch kenne ich keine bestimmte Erweisung derselben außer in Rom selbst die Leichensozietäten, durch die sich arme Leute eine anstündige Bestattung sicherten, und uuter denen die Christen Gelegenheit fanden, sich zu verbergen." Nationalitätskämpfe Z. Ursachen und Arten der Verschiebung der Sprachgrenzen MWÜberall, wo Sprachgrenzen verschoben, Sprachgebiete eingeengt oder ganz vom Erdboden verdrängt worden sind, ist Wandrung, Niederlassung und Entnationalisierung die Ursache dazu gewesen. Unter den Ursachen, durch die Wandrungen hervorgerufen werden können, stehn die wirtschaftlichen unbedingt im Vorder¬ gründe. Bei unsern modernen Bevölkerungsumlagerungcn, die mit ihren ge¬ waltigen sich Jahr für Jahr summierenden Zahlen die Völkerwandrungen des beginnenden Mittelalters weit hinter sich lassen, ist dies von vornherein klar: das Streben nach Erwerb, nach einer wirtschaftlich gesicherten Zukunft ist es, was in jedem Jahre Tausende und aber Tausende unsrer Volksgenossen ver¬ anlaßt, zum Wanderstabe zu greifen, um teils innerhalb des Volksgebiets, teils in fremdem Sprachgebiet oder gar über dem Weltmeer einen neuen Wirkungskreis zu suchen. Aber die Völkerwcmdrung ist, so sehr sie sich von den modernen Massenwandrungen unterscheidet, doch anch durch einen Anstoß wirtschaftlicher Art entfesselt worden: das Nomadenvolk der Hunnen bedürfte neuer Weidegründe, und auf der Suche nach ihnen stieß es auf die Völker Europas, sie aufscheuchend aus ihren angestammten Sitzen zu ruhelosen Wandern, bis sie in den entlegnen Halbinseln West- und Südeuropas, sogar in Afrika eine neue Heimat und zugleich das Grab ihres dahinschwindenden Volkstums fanden. Auch politische Umwälzungen — ich erinnere an die französischen Emi¬ granten der Revolutionszeit —, religiöse Bedrängnisse — ich nenne die Waldenser und Hugenotten — können merkliche Wnndrnngen hervorrufen: die Erweiterung des Staats kann es bewirken, daß Teile der im eroberten Gebiete heimischen Bevölkerung abströmen und dagegen aus dem Gebiet der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/492>, abgerufen am 28.04.2024.