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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Marx als Philosoph

>in neuere Philosophie, die ihrem Kerne nach deutsche Philosophie
ist, but den Völkern, und besonders dem unsern, unermeßliche
Wohlthaten erwiesen, Sie ist die Schöpferin der Naturwissen¬
schaften und damit der materiellen Lebensbedingungen der heutigen
! Kulturvölker, denn die moderne Naturwisseuschnst ist so gut wie
die der alten Griechen aus der Philosophie und in Wechselwirkung mit ihr
erwachsen. Die Philosophie hat durch die Naturerkenutuis, die sie erschloß,
zwar noch nicht den Aberglauben unmöglich gemacht - es bekennen sich ja
sogar philosophisch gebildete Männer zum Spiritismus --, aber ihm sein Herr¬
schaftsgebiet bedeutend eingeengt, die Periode des allerscheußlichsten Aberglaubens
geschlossen und der Wiederkehr eines Zustands vorgebeugt, wo ein blutgieriger
Aberglaube auf dem Stuhle des Strafrichters Platz genommen und von da
gewütet hatte. Die Philosophie hat die Blicke von den unfruchtbaren Spitz-
findigkeiten einer kirchlichen Metaphysik ab und auf die irdische Erscheinungs¬
welt, die dem Menschen von Gott zugewiesene Werkstätte hin gelenkt und im
Bunde mit Dichtern und Künstlern aus fanatischen Kirchenmännern wieder
Menschen gemacht, die nun auch wieder Christen werden konnten. Und das
sind viele geworden. Erst nach der Befreiung vom Orthodoxismus und vom
Aberglaube" sind die Grundwahrheiten, die Grundsätze und die Grundkräfte
des Christentums wieder lebendig geworden auch in solchen Herzen, ans denen
atheistische Köpfe sitzen, und haben sich in humaner Gesinnung und in Werken
der Nächstenliebe bethätigt. Aber freilich hat die Philosophie auch neue Brücken
zum Atheismus hinübergeschlagen, der, wenn er weithin und lange genug die
Köpfe beherrscht, zuletzt auch in die Herzen eindringt. Kant macht allen Ver¬
nünftigen den dogmatischen Fanatismus unmöglich, indem er der Überzeugung
zum Durchbruch verholfen hat, daß unsre Erkenntnis nicht über die sinnliche
Erfahrung hinausreicht, und daß wir von der Beschaffenheit metaphysischer
Wesen nichts wissen können. Aber er ist zu weit gegangen, indem er die drei
Ideen: Seele, Kosmos und Gott im Erkenntnisgebiet bloß noch als Regu¬
lative, d. h. als brauchbare Hypothesen, gelten ließ und sie ins Gebiet der
praktischen Vernunft verwies. Er übersah, daß es Menschen giebt, denen Ich,
Universum und Gott Denknotwendigkeiten sind. Die Seelen sind in dieser
Beziehung nicht gleich konstruiert, die Beweise für das Dasein Gottes wirken
deshalb nicht bei allen überzeugend und sind also, darin hat Kant Recht, keine
Beweise im strengen Sinne des Worts, aber für alle, die wirklich an Gott
glauben, ist das Dasein Gottes eine Denknvtwendigkeit, wenn sie diese auch
gar nicht in die Form eines Beweises einzukleiden vermöge". Dann hat




Marx als Philosoph

>in neuere Philosophie, die ihrem Kerne nach deutsche Philosophie
ist, but den Völkern, und besonders dem unsern, unermeßliche
Wohlthaten erwiesen, Sie ist die Schöpferin der Naturwissen¬
schaften und damit der materiellen Lebensbedingungen der heutigen
! Kulturvölker, denn die moderne Naturwisseuschnst ist so gut wie
die der alten Griechen aus der Philosophie und in Wechselwirkung mit ihr
erwachsen. Die Philosophie hat durch die Naturerkenutuis, die sie erschloß,
zwar noch nicht den Aberglauben unmöglich gemacht - es bekennen sich ja
sogar philosophisch gebildete Männer zum Spiritismus —, aber ihm sein Herr¬
schaftsgebiet bedeutend eingeengt, die Periode des allerscheußlichsten Aberglaubens
geschlossen und der Wiederkehr eines Zustands vorgebeugt, wo ein blutgieriger
Aberglaube auf dem Stuhle des Strafrichters Platz genommen und von da
gewütet hatte. Die Philosophie hat die Blicke von den unfruchtbaren Spitz-
findigkeiten einer kirchlichen Metaphysik ab und auf die irdische Erscheinungs¬
welt, die dem Menschen von Gott zugewiesene Werkstätte hin gelenkt und im
Bunde mit Dichtern und Künstlern aus fanatischen Kirchenmännern wieder
Menschen gemacht, die nun auch wieder Christen werden konnten. Und das
sind viele geworden. Erst nach der Befreiung vom Orthodoxismus und vom
Aberglaube» sind die Grundwahrheiten, die Grundsätze und die Grundkräfte
des Christentums wieder lebendig geworden auch in solchen Herzen, ans denen
atheistische Köpfe sitzen, und haben sich in humaner Gesinnung und in Werken
der Nächstenliebe bethätigt. Aber freilich hat die Philosophie auch neue Brücken
zum Atheismus hinübergeschlagen, der, wenn er weithin und lange genug die
Köpfe beherrscht, zuletzt auch in die Herzen eindringt. Kant macht allen Ver¬
nünftigen den dogmatischen Fanatismus unmöglich, indem er der Überzeugung
zum Durchbruch verholfen hat, daß unsre Erkenntnis nicht über die sinnliche
Erfahrung hinausreicht, und daß wir von der Beschaffenheit metaphysischer
Wesen nichts wissen können. Aber er ist zu weit gegangen, indem er die drei
Ideen: Seele, Kosmos und Gott im Erkenntnisgebiet bloß noch als Regu¬
lative, d. h. als brauchbare Hypothesen, gelten ließ und sie ins Gebiet der
praktischen Vernunft verwies. Er übersah, daß es Menschen giebt, denen Ich,
Universum und Gott Denknotwendigkeiten sind. Die Seelen sind in dieser
Beziehung nicht gleich konstruiert, die Beweise für das Dasein Gottes wirken
deshalb nicht bei allen überzeugend und sind also, darin hat Kant Recht, keine
Beweise im strengen Sinne des Worts, aber für alle, die wirklich an Gott
glauben, ist das Dasein Gottes eine Denknvtwendigkeit, wenn sie diese auch
gar nicht in die Form eines Beweises einzukleiden vermöge». Dann hat


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[0664] [Abbildung] Marx als Philosoph >in neuere Philosophie, die ihrem Kerne nach deutsche Philosophie ist, but den Völkern, und besonders dem unsern, unermeßliche Wohlthaten erwiesen, Sie ist die Schöpferin der Naturwissen¬ schaften und damit der materiellen Lebensbedingungen der heutigen ! Kulturvölker, denn die moderne Naturwisseuschnst ist so gut wie die der alten Griechen aus der Philosophie und in Wechselwirkung mit ihr erwachsen. Die Philosophie hat durch die Naturerkenutuis, die sie erschloß, zwar noch nicht den Aberglauben unmöglich gemacht - es bekennen sich ja sogar philosophisch gebildete Männer zum Spiritismus —, aber ihm sein Herr¬ schaftsgebiet bedeutend eingeengt, die Periode des allerscheußlichsten Aberglaubens geschlossen und der Wiederkehr eines Zustands vorgebeugt, wo ein blutgieriger Aberglaube auf dem Stuhle des Strafrichters Platz genommen und von da gewütet hatte. Die Philosophie hat die Blicke von den unfruchtbaren Spitz- findigkeiten einer kirchlichen Metaphysik ab und auf die irdische Erscheinungs¬ welt, die dem Menschen von Gott zugewiesene Werkstätte hin gelenkt und im Bunde mit Dichtern und Künstlern aus fanatischen Kirchenmännern wieder Menschen gemacht, die nun auch wieder Christen werden konnten. Und das sind viele geworden. Erst nach der Befreiung vom Orthodoxismus und vom Aberglaube» sind die Grundwahrheiten, die Grundsätze und die Grundkräfte des Christentums wieder lebendig geworden auch in solchen Herzen, ans denen atheistische Köpfe sitzen, und haben sich in humaner Gesinnung und in Werken der Nächstenliebe bethätigt. Aber freilich hat die Philosophie auch neue Brücken zum Atheismus hinübergeschlagen, der, wenn er weithin und lange genug die Köpfe beherrscht, zuletzt auch in die Herzen eindringt. Kant macht allen Ver¬ nünftigen den dogmatischen Fanatismus unmöglich, indem er der Überzeugung zum Durchbruch verholfen hat, daß unsre Erkenntnis nicht über die sinnliche Erfahrung hinausreicht, und daß wir von der Beschaffenheit metaphysischer Wesen nichts wissen können. Aber er ist zu weit gegangen, indem er die drei Ideen: Seele, Kosmos und Gott im Erkenntnisgebiet bloß noch als Regu¬ lative, d. h. als brauchbare Hypothesen, gelten ließ und sie ins Gebiet der praktischen Vernunft verwies. Er übersah, daß es Menschen giebt, denen Ich, Universum und Gott Denknotwendigkeiten sind. Die Seelen sind in dieser Beziehung nicht gleich konstruiert, die Beweise für das Dasein Gottes wirken deshalb nicht bei allen überzeugend und sind also, darin hat Kant Recht, keine Beweise im strengen Sinne des Worts, aber für alle, die wirklich an Gott glauben, ist das Dasein Gottes eine Denknvtwendigkeit, wenn sie diese auch gar nicht in die Form eines Beweises einzukleiden vermöge». Dann hat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/664>, abgerufen am 29.04.2024.