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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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bewirken, daß die sich bildende Sprachgrenze bis weit über die Mitte des einst¬
maligen Mischgebiets hinaus vorgeschoben wird und dergestalt schließlich dieses
Mischgcbict der energischer" Nation allein ohne Teilung anheimfällt.




Zur Entwicklungsgeschichte der absoluten Monarchie
in Rußland
(Schluß)

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MW>s ist allgemein bekannt, daß Peter der Große die zarische Gewalt
in ihrer unbeschränktesten und absolutesten Form zur Anerkennung
gebracht hat; es ist nicht minder bekannt, daß er sein Reich nach
europäischem Muster umgestaltete, oder richtiger gesagt, einen
I völligen Neubau schuf. Nicht ebenso bekannt ist es aber, daß zwischen
diesen beiden Thatsachen ein tief innerer Zusammenhang bestand. Noch Johann
der Grausame glaubte, die Selbstherrschaft dadurch begründen zu können, daß er
einer möglichst großen Anzahl widerspenstiger Bojaren den Kopf abschlagen ließ;
Peter der Große wußte, daß uur die völlige Vernichtung des gesamten alt¬
russischen Lebens zu diesem Ziele führen könne. Johann beseitigte Personen, Peter
räumte mit der Tradition vergangner Jahrhunderte auf. In diesem bewußten
Vorgehn liegt die Anerkennung der Macht der altgeheiligten russischen Tradition,
die wir früher als die letzte Schranke der Selbstherrschaft kennen lernten, und
die, so schwer sie sich definieren läßt, den Zaren an das geschichtlich Gewordne,
an das Gewohnheitsrecht, die Bojaren, den Patriarchen und die Sitte des
täglichen Lebens band. Nirgends war diesen Kräften ein verbrieftes Recht um
der Einschränkung des zarischen Willens zugesprochen, aber thatsächlich waren
sie eine Mauer, vor der die absolute Gewalt jederzeit Halt zu machen pflegte.
Wohl hatte Johann IV. Bresche in diese Mauer gelegt, aber sie völlig nieder¬
zureißen gelang erst Peter dem Großen. Damit ist aber auch der gewaltige
Unterschied zwischen dem alten und dein neuen Selbstherrschertum begründet.
Das letzte zeigt sich als eine moderne Einrichtung, die ihre Wurzeln nicht in
den ehrwürdigen Zeiten der moskauischen Zaren, sondern in den Reformen hat,
die im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in aller Eile und im strikten Gegen¬
satz zur historischen Entwicklung Rußlands eingeführt wurden. Nicht Moskau hat
die absolute Monarchie zur Reife gebracht, sondern Petersburg. Es ist bekannt,
daß Peter der Große noch heutigentags in Nußland erbitterte Gegner hat;
es sind das die Slawophilen, die in dem Werk des ersten Kaisers eine rohe
Unterbrechung der geschichtlichen Entwicklung ihres Reichs sehen. Es ist die¬
selbe Partei, die in der Wiederbelebung der vorpetrinischen Tradition das Heil
Rußlands sieht. Will mau die Slawophilen auf ihr politisches Glaubens¬
bekenntnis hin klassifizieren, so darf man nicht vergessen, daß sie die Vertreter


bewirken, daß die sich bildende Sprachgrenze bis weit über die Mitte des einst¬
maligen Mischgebiets hinaus vorgeschoben wird und dergestalt schließlich dieses
Mischgcbict der energischer» Nation allein ohne Teilung anheimfällt.




Zur Entwicklungsgeschichte der absoluten Monarchie
in Rußland
(Schluß)

"AM« )^'
MW>s ist allgemein bekannt, daß Peter der Große die zarische Gewalt
in ihrer unbeschränktesten und absolutesten Form zur Anerkennung
gebracht hat; es ist nicht minder bekannt, daß er sein Reich nach
europäischem Muster umgestaltete, oder richtiger gesagt, einen
I völligen Neubau schuf. Nicht ebenso bekannt ist es aber, daß zwischen
diesen beiden Thatsachen ein tief innerer Zusammenhang bestand. Noch Johann
der Grausame glaubte, die Selbstherrschaft dadurch begründen zu können, daß er
einer möglichst großen Anzahl widerspenstiger Bojaren den Kopf abschlagen ließ;
Peter der Große wußte, daß uur die völlige Vernichtung des gesamten alt¬
russischen Lebens zu diesem Ziele führen könne. Johann beseitigte Personen, Peter
räumte mit der Tradition vergangner Jahrhunderte auf. In diesem bewußten
Vorgehn liegt die Anerkennung der Macht der altgeheiligten russischen Tradition,
die wir früher als die letzte Schranke der Selbstherrschaft kennen lernten, und
die, so schwer sie sich definieren läßt, den Zaren an das geschichtlich Gewordne,
an das Gewohnheitsrecht, die Bojaren, den Patriarchen und die Sitte des
täglichen Lebens band. Nirgends war diesen Kräften ein verbrieftes Recht um
der Einschränkung des zarischen Willens zugesprochen, aber thatsächlich waren
sie eine Mauer, vor der die absolute Gewalt jederzeit Halt zu machen pflegte.
Wohl hatte Johann IV. Bresche in diese Mauer gelegt, aber sie völlig nieder¬
zureißen gelang erst Peter dem Großen. Damit ist aber auch der gewaltige
Unterschied zwischen dem alten und dein neuen Selbstherrschertum begründet.
Das letzte zeigt sich als eine moderne Einrichtung, die ihre Wurzeln nicht in
den ehrwürdigen Zeiten der moskauischen Zaren, sondern in den Reformen hat,
die im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts in aller Eile und im strikten Gegen¬
satz zur historischen Entwicklung Rußlands eingeführt wurden. Nicht Moskau hat
die absolute Monarchie zur Reife gebracht, sondern Petersburg. Es ist bekannt,
daß Peter der Große noch heutigentags in Nußland erbitterte Gegner hat;
es sind das die Slawophilen, die in dem Werk des ersten Kaisers eine rohe
Unterbrechung der geschichtlichen Entwicklung ihres Reichs sehen. Es ist die¬
selbe Partei, die in der Wiederbelebung der vorpetrinischen Tradition das Heil
Rußlands sieht. Will mau die Slawophilen auf ihr politisches Glaubens¬
bekenntnis hin klassifizieren, so darf man nicht vergessen, daß sie die Vertreter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/74>, abgerufen am 29.04.2024.