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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr.

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Kursächsische ^"treifzüge
von V. L. Schmidt
Z. Sitzenroda. 5childa und das ^childbürgerbuch

is wi
r im Juli auf den Spuren Karls V, vou Strehla her
nach Schirmenitz niedersteigend immer wieder den dunkeln Wald¬
gürtel erblickten, der sich vom Lauf der Elbe westwärts zur
kleinern Schwester des Stroms, zur Mulde, hinüberzieht, er¬
griff uns das Verlangen, auch dieses Gelände zu durchstreifen.
Es liegt jetzt weit abseits vom großen Weltgetriebe, aber einst war es der Sitz
eines reichen kirchliche!? und wirtschaftlichen Lebens und birgt deshalb einen
köstlichen Schatz alter knrsächsischer Erinnerungen. Vor allem lockte uns ein
Name in diese stillen Wälder, mit dem sich seit den Tagen der Kindheit die
Vorstellung närrischer Heiterkeit und kerndeutschen Humors verband -- Schilda.
Wer könnte diesen Namen ohne ein Lächeln aussprechen, wenn er der Zeiten
gedenkt, wo er in Sexta oder Quinta die unsterbliche Geschichte vou den? drei¬
eckigen, fensterlosen Rathaus, in das das Licht mit Säcken hineingetragen
wurde, und andre Schildbürgergeschichten des Lesebuchs mit Heller Freude
studierte? Ein Zauber ist um so kräftiger, je länger er in unsrer Seele
wirkt -- und so trieb es uns denn mit magischer Gewalt, zu erkunden, wie
es zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in dem berühmten deutschen
Abdera aussehe.

An einem wunderbar klaren Septembertage, dessen tiefblauer Himmel
allen Reiz des unvergleichlichen Sommers von 1901 noch einmal wider¬
zustrahlen schien, fuhren wir von dem sächsischen Städtchen Dahler nordwärts
der preußischen Grenze entgegen. Unsre Straße führte an dem vornehmen
Dahlcner Schloß vorüber, das einst während der Hubcrtusburger Friedens¬
verhandlungen monatelang der Wohnsitz Friedrichs des Großen gewesen war,
dann zwischen Wiesen und den hohen grünen Laubwipfeln des Tiergartens
dahin und endlich durch Kieferuforsten nach dem alten Dorfe Sitzenroda. Dieses
liegt inmitten einer großen Waldblöße, die, wie viele andre in dieser Gegend,
infolge der deutschen Kolonisation vor acht Jahrhunderten in den einst vom
Elbstrom bis zur Mulde reichenden Urwald hineingearbeitet worden ist. Der
Name des Orts bedeutet "Rodung derSizzo," aber wir wissen nicht, ob hier
zuerst thüringische oder niedersächsische oder flämische Bauern den jungfräu-
lichen Boden bestellten. Inmitten des Orts, auf weitausschauendem Hügel,
liegt das einfache, aber schmucke Gotteshaus, ein Nettbau vom Jahre 1572
an der Stelle der alten Kirche, aus der wertvolle Holzschnitzwerke, z. B. ein
der Jungfrau Maria gewidmeter Flügelaltar und ein großer gekreuzigter




Kursächsische ^»treifzüge
von V. L. Schmidt
Z. Sitzenroda. 5childa und das ^childbürgerbuch

is wi
r im Juli auf den Spuren Karls V, vou Strehla her
nach Schirmenitz niedersteigend immer wieder den dunkeln Wald¬
gürtel erblickten, der sich vom Lauf der Elbe westwärts zur
kleinern Schwester des Stroms, zur Mulde, hinüberzieht, er¬
griff uns das Verlangen, auch dieses Gelände zu durchstreifen.
Es liegt jetzt weit abseits vom großen Weltgetriebe, aber einst war es der Sitz
eines reichen kirchliche!? und wirtschaftlichen Lebens und birgt deshalb einen
köstlichen Schatz alter knrsächsischer Erinnerungen. Vor allem lockte uns ein
Name in diese stillen Wälder, mit dem sich seit den Tagen der Kindheit die
Vorstellung närrischer Heiterkeit und kerndeutschen Humors verband — Schilda.
Wer könnte diesen Namen ohne ein Lächeln aussprechen, wenn er der Zeiten
gedenkt, wo er in Sexta oder Quinta die unsterbliche Geschichte vou den? drei¬
eckigen, fensterlosen Rathaus, in das das Licht mit Säcken hineingetragen
wurde, und andre Schildbürgergeschichten des Lesebuchs mit Heller Freude
studierte? Ein Zauber ist um so kräftiger, je länger er in unsrer Seele
wirkt — und so trieb es uns denn mit magischer Gewalt, zu erkunden, wie
es zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in dem berühmten deutschen
Abdera aussehe.

An einem wunderbar klaren Septembertage, dessen tiefblauer Himmel
allen Reiz des unvergleichlichen Sommers von 1901 noch einmal wider¬
zustrahlen schien, fuhren wir von dem sächsischen Städtchen Dahler nordwärts
der preußischen Grenze entgegen. Unsre Straße führte an dem vornehmen
Dahlcner Schloß vorüber, das einst während der Hubcrtusburger Friedens¬
verhandlungen monatelang der Wohnsitz Friedrichs des Großen gewesen war,
dann zwischen Wiesen und den hohen grünen Laubwipfeln des Tiergartens
dahin und endlich durch Kieferuforsten nach dem alten Dorfe Sitzenroda. Dieses
liegt inmitten einer großen Waldblöße, die, wie viele andre in dieser Gegend,
infolge der deutschen Kolonisation vor acht Jahrhunderten in den einst vom
Elbstrom bis zur Mulde reichenden Urwald hineingearbeitet worden ist. Der
Name des Orts bedeutet „Rodung derSizzo," aber wir wissen nicht, ob hier
zuerst thüringische oder niedersächsische oder flämische Bauern den jungfräu-
lichen Boden bestellten. Inmitten des Orts, auf weitausschauendem Hügel,
liegt das einfache, aber schmucke Gotteshaus, ein Nettbau vom Jahre 1572
an der Stelle der alten Kirche, aus der wertvolle Holzschnitzwerke, z. B. ein
der Jungfrau Maria gewidmeter Flügelaltar und ein großer gekreuzigter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_236523/96>, abgerufen am 29.04.2024.