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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Drei Wiener Kunstbriefe
i

>uf der Heimkehr vom Süden, nachdem mir wochenlang keine
deutsche Zeitung zu Gesicht gekommen war, traf ich mit einem
Nachtzuge in Wien ein und geriet, am Ende eines erfrischenden
Spazierganges im Freien, vor das Ausstellungsgebüude des
! Künstlervereins. Der lebhafte Zudrang lockte mich zu sehen,
was diesesmal darin zu finden sei, und schnell entschlossen trat ich ein. Ich
will versuchen, freimütig niederzuschreiben, was ich, ganz unbefangen von
irgend einer Erwartung, bei diesem Besuch erlebt habe. Dann erst sollen
sich einige Erwägungen anreihen, bei denen ich jeden Einblick in die sonstigen
Besprechungen ferngehalten habe, da sie bei dieser zufälligen Gelegenheit zu
vorurteilsfreier Beobachtung uur beirren konnten.

Die mittlere Glasthür mit ihren kleinen Scheiben gewährt, über die
grünen Büsche hin, die erste überraschende Anschauung von einer hellen Ge¬
stalt darinnen -- noch ehe man durch einen der seitlichen Eingänge, von
allerlei Vorkehrungen aufgehalten, selber hineingelange.

Unter dem kahlen Gewölbe mit Oberlicht sieht man mitten im Saal
einen nackten Mann ans breitem Stuhl mit hoher Rücklehne dasitzen. Nach
vorn gewandt, etwas gebeugt, den Kopf vorschiebend, legt er beide Arme auf
das übergeschlagne Bein und ballt die Hände hinter einander zur Faust,
beinahe als drückten sie auf die gespannten Muskeln gegen das erhobne Knie,
auf dessen Höhe nur eben noch das weite Gewand hängen bleibt, das den
untern Teil bis auf die Füße verhüllt. So zusammengenommen scheint der
alternde Mann, durch einen Anblick vor ihm festgehalten, seines eigentlichen
Vorhabens zu vergessen. Wir versuchen, auf Grund dieser Anschauung uns
Rechenschaft zu geben, was es sei, das ihn hierhergeführt habe, und was deu
Entkleideten in solcher vorübergehenden Situation zu fesseln vermöge, ja zu
solchem selbstvergessener Anteil gefangen nehme. Wir pflegen ja nackte Männer
mit einem Laken um die Beine nur in Badeanstalten zu sehen. Und die kahle
Umgebung des Bildwerks, die Form und die Beleuchtung der Halle zwingen
uns, an einen jener Thermenräume zu denken, wo sich dieser Alte ausgezogen
und mit wüstem Haar auf eine Bank niedergelassen hat, um sich vor dem
Bade lieber abzukühlen. Vom Oberkörper ist schon die letzte Hülle gefallen,
und er würde gewiß bald ins Wasser steigen, wenn nicht das Schauspiel ihn
noch abzöge, das er vor sich sieht. Und dieses, was kann es anderes sein,
als ein Ringkampf oder ein Angriff mit den Fünften zwischen jungen Ge¬
sellen? Denn im Zuschauen ballen sich unbewußt auch seine Hände zur Faust,




Drei Wiener Kunstbriefe
i

>uf der Heimkehr vom Süden, nachdem mir wochenlang keine
deutsche Zeitung zu Gesicht gekommen war, traf ich mit einem
Nachtzuge in Wien ein und geriet, am Ende eines erfrischenden
Spazierganges im Freien, vor das Ausstellungsgebüude des
! Künstlervereins. Der lebhafte Zudrang lockte mich zu sehen,
was diesesmal darin zu finden sei, und schnell entschlossen trat ich ein. Ich
will versuchen, freimütig niederzuschreiben, was ich, ganz unbefangen von
irgend einer Erwartung, bei diesem Besuch erlebt habe. Dann erst sollen
sich einige Erwägungen anreihen, bei denen ich jeden Einblick in die sonstigen
Besprechungen ferngehalten habe, da sie bei dieser zufälligen Gelegenheit zu
vorurteilsfreier Beobachtung uur beirren konnten.

Die mittlere Glasthür mit ihren kleinen Scheiben gewährt, über die
grünen Büsche hin, die erste überraschende Anschauung von einer hellen Ge¬
stalt darinnen — noch ehe man durch einen der seitlichen Eingänge, von
allerlei Vorkehrungen aufgehalten, selber hineingelange.

Unter dem kahlen Gewölbe mit Oberlicht sieht man mitten im Saal
einen nackten Mann ans breitem Stuhl mit hoher Rücklehne dasitzen. Nach
vorn gewandt, etwas gebeugt, den Kopf vorschiebend, legt er beide Arme auf
das übergeschlagne Bein und ballt die Hände hinter einander zur Faust,
beinahe als drückten sie auf die gespannten Muskeln gegen das erhobne Knie,
auf dessen Höhe nur eben noch das weite Gewand hängen bleibt, das den
untern Teil bis auf die Füße verhüllt. So zusammengenommen scheint der
alternde Mann, durch einen Anblick vor ihm festgehalten, seines eigentlichen
Vorhabens zu vergessen. Wir versuchen, auf Grund dieser Anschauung uns
Rechenschaft zu geben, was es sei, das ihn hierhergeführt habe, und was deu
Entkleideten in solcher vorübergehenden Situation zu fesseln vermöge, ja zu
solchem selbstvergessener Anteil gefangen nehme. Wir pflegen ja nackte Männer
mit einem Laken um die Beine nur in Badeanstalten zu sehen. Und die kahle
Umgebung des Bildwerks, die Form und die Beleuchtung der Halle zwingen
uns, an einen jener Thermenräume zu denken, wo sich dieser Alte ausgezogen
und mit wüstem Haar auf eine Bank niedergelassen hat, um sich vor dem
Bade lieber abzukühlen. Vom Oberkörper ist schon die letzte Hülle gefallen,
und er würde gewiß bald ins Wasser steigen, wenn nicht das Schauspiel ihn
noch abzöge, das er vor sich sieht. Und dieses, was kann es anderes sein,
als ein Ringkampf oder ein Angriff mit den Fünften zwischen jungen Ge¬
sellen? Denn im Zuschauen ballen sich unbewußt auch seine Hände zur Faust,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/379>, abgerufen am 29.04.2024.