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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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göttinnen im Sinne der Hesiodischen Theogonie Verwandtes sehen, die den
Lebensfaden der Menschen spinnen, ihnen das Lebenslos znerteilen und un¬
abwendbar ihren Untergang bestimmen. Antik in diesem Sinne gedacht ist die
Warnung des Mephistopheles an Faust (I. Teil, Schluß): "Über des Er-
schlagnen Stätte schweben rächende Geister und lauern auf den wiederkehrenden
Mörder." Aber wir können noch einen Schritt weiter gehn und dort, wo er
direkt von (gute" oder bösen) Dämonen spricht, deren Macht sich überall
fühlbar mache, bald in neckischen Schabernack und schadenfrohen Streichen,
bald in glücklichen und förderlichen Eingriffen in unsern Lebenslauf, einen
Beleg für seine polytheistische Denkweise finden, durch die er mit künstlerischer
Kraft die Emanationen ans dein göttlichen Urgrund der Welt zu plastischen
Phantasiegebilden gestaltet. Erklärt er doch selbst ausdrücklich: "Als Dichter
und Künstler bin ich Polytheist, Pnntheist dagegen als Naturforscher, und eins
so entschieden wie das andre!"

Goethe liebte es eben, dein prosaisch Reellen das poetisch symbolische
entgegenzusetzen, und es war der Trieb seines Schöpfergeistes, wie schon Merck
es treffend bezeichnet hat, "dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben."
Das erreicht die dichterische Einbildungskraft durch den Prozeß der Individua¬
lisierung, und so wußte Goethe die dunkel wirkenden Naturkräfte, gegenüber
dem sich selbst denkenden bewußten Geiste, zu geheimnisvoll zwischen Himmel
und Erde schwebenden Übergangsgestalten zu verdichten, Verkörperungen der
nur hnlbbewußten unheilvollen Naturgewalt, als Gegensatz zu dein sich in der
Welt realisierenden erhabnen Vernunftprinzip.

Der Untergrund für diese ganze Gedankenwelt Goethes ist sein lebendiges
Gefühl für die Tragik der menschlichen Stellung in der Natur, "vorüber das
faustische Wort vom "ganzen Jammer der Menschheit" ein düstres Schlaglicht
wirft! Zugleich aber empfinden wir aus deu an Eckermann wiederholt ge¬
richteten Ermahnungen des greisen Titanen, "dem Einfluß des Dämonischen
zu widerstehn und sich seiner Macht zu widersetzet?," etwas von dem Über¬
menschentum Goethes, die ganze sittliche Kühnheit und Größe seines Wesens,
da er das Korrektiv zur dämonisch herrschenden Schicksalsgewalt im schöpfe¬
rischen Selbstbewußtsein des Menschen findet, das ihn aus dem leidend Unter¬
liegenden zum erkennend Schauenden und durch einen starken Willen über das
Leben Triumphierenden erhebt.


Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.



göttinnen im Sinne der Hesiodischen Theogonie Verwandtes sehen, die den
Lebensfaden der Menschen spinnen, ihnen das Lebenslos znerteilen und un¬
abwendbar ihren Untergang bestimmen. Antik in diesem Sinne gedacht ist die
Warnung des Mephistopheles an Faust (I. Teil, Schluß): „Über des Er-
schlagnen Stätte schweben rächende Geister und lauern auf den wiederkehrenden
Mörder." Aber wir können noch einen Schritt weiter gehn und dort, wo er
direkt von (gute» oder bösen) Dämonen spricht, deren Macht sich überall
fühlbar mache, bald in neckischen Schabernack und schadenfrohen Streichen,
bald in glücklichen und förderlichen Eingriffen in unsern Lebenslauf, einen
Beleg für seine polytheistische Denkweise finden, durch die er mit künstlerischer
Kraft die Emanationen ans dein göttlichen Urgrund der Welt zu plastischen
Phantasiegebilden gestaltet. Erklärt er doch selbst ausdrücklich: „Als Dichter
und Künstler bin ich Polytheist, Pnntheist dagegen als Naturforscher, und eins
so entschieden wie das andre!"

Goethe liebte es eben, dein prosaisch Reellen das poetisch symbolische
entgegenzusetzen, und es war der Trieb seines Schöpfergeistes, wie schon Merck
es treffend bezeichnet hat, „dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben."
Das erreicht die dichterische Einbildungskraft durch den Prozeß der Individua¬
lisierung, und so wußte Goethe die dunkel wirkenden Naturkräfte, gegenüber
dem sich selbst denkenden bewußten Geiste, zu geheimnisvoll zwischen Himmel
und Erde schwebenden Übergangsgestalten zu verdichten, Verkörperungen der
nur hnlbbewußten unheilvollen Naturgewalt, als Gegensatz zu dein sich in der
Welt realisierenden erhabnen Vernunftprinzip.

Der Untergrund für diese ganze Gedankenwelt Goethes ist sein lebendiges
Gefühl für die Tragik der menschlichen Stellung in der Natur, »vorüber das
faustische Wort vom „ganzen Jammer der Menschheit" ein düstres Schlaglicht
wirft! Zugleich aber empfinden wir aus deu an Eckermann wiederholt ge¬
richteten Ermahnungen des greisen Titanen, „dem Einfluß des Dämonischen
zu widerstehn und sich seiner Macht zu widersetzet?," etwas von dem Über¬
menschentum Goethes, die ganze sittliche Kühnheit und Größe seines Wesens,
da er das Korrektiv zur dämonisch herrschenden Schicksalsgewalt im schöpfe¬
rischen Selbstbewußtsein des Menschen findet, das ihn aus dem leidend Unter¬
liegenden zum erkennend Schauenden und durch einen starken Willen über das
Leben Triumphierenden erhebt.


Allen Gewalten
Zum Trutz sich erhalten,
Nimmer sich beugen,
Kräftig sich zeigen,
Rufet die Arme
Der Götter herbei.



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[0378] göttinnen im Sinne der Hesiodischen Theogonie Verwandtes sehen, die den Lebensfaden der Menschen spinnen, ihnen das Lebenslos znerteilen und un¬ abwendbar ihren Untergang bestimmen. Antik in diesem Sinne gedacht ist die Warnung des Mephistopheles an Faust (I. Teil, Schluß): „Über des Er- schlagnen Stätte schweben rächende Geister und lauern auf den wiederkehrenden Mörder." Aber wir können noch einen Schritt weiter gehn und dort, wo er direkt von (gute» oder bösen) Dämonen spricht, deren Macht sich überall fühlbar mache, bald in neckischen Schabernack und schadenfrohen Streichen, bald in glücklichen und förderlichen Eingriffen in unsern Lebenslauf, einen Beleg für seine polytheistische Denkweise finden, durch die er mit künstlerischer Kraft die Emanationen ans dein göttlichen Urgrund der Welt zu plastischen Phantasiegebilden gestaltet. Erklärt er doch selbst ausdrücklich: „Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pnntheist dagegen als Naturforscher, und eins so entschieden wie das andre!" Goethe liebte es eben, dein prosaisch Reellen das poetisch symbolische entgegenzusetzen, und es war der Trieb seines Schöpfergeistes, wie schon Merck es treffend bezeichnet hat, „dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben." Das erreicht die dichterische Einbildungskraft durch den Prozeß der Individua¬ lisierung, und so wußte Goethe die dunkel wirkenden Naturkräfte, gegenüber dem sich selbst denkenden bewußten Geiste, zu geheimnisvoll zwischen Himmel und Erde schwebenden Übergangsgestalten zu verdichten, Verkörperungen der nur hnlbbewußten unheilvollen Naturgewalt, als Gegensatz zu dein sich in der Welt realisierenden erhabnen Vernunftprinzip. Der Untergrund für diese ganze Gedankenwelt Goethes ist sein lebendiges Gefühl für die Tragik der menschlichen Stellung in der Natur, »vorüber das faustische Wort vom „ganzen Jammer der Menschheit" ein düstres Schlaglicht wirft! Zugleich aber empfinden wir aus deu an Eckermann wiederholt ge¬ richteten Ermahnungen des greisen Titanen, „dem Einfluß des Dämonischen zu widerstehn und sich seiner Macht zu widersetzet?," etwas von dem Über¬ menschentum Goethes, die ganze sittliche Kühnheit und Größe seines Wesens, da er das Korrektiv zur dämonisch herrschenden Schicksalsgewalt im schöpfe¬ rischen Selbstbewußtsein des Menschen findet, das ihn aus dem leidend Unter¬ liegenden zum erkennend Schauenden und durch einen starken Willen über das Leben Triumphierenden erhebt. Allen Gewalten Zum Trutz sich erhalten, Nimmer sich beugen, Kräftig sich zeigen, Rufet die Arme Der Götter herbei.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/378>, abgerufen am 15.05.2024.