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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

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Bismarck und Garibcild!

eine ungarische sein würde. Die zur Vermeidung dieser Entwicklung notwendige
Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs wird aber wesentlich dadurch er¬
schwert, daß einerseits Österreich bessere wirtschaftliche Bedingungen als bisher
oder wenigstens die loyale Einhaltung der Vereinbarungen von Ungarn fordert,
andrerseits Ungarn aber den wirtschaftlichen Ausgleich nur unter Bedingungen
und in Formen erneuern will, die die Forderungen Österreichs nicht genügend
berücksichtigen, aber auch nicht die geringste Gewähr dagegen bieten, daß dieser
Ausgleich nur die letzte Etappe zur Trennung der beiden Ncichshülften sei, die
Krone aber mit gutem Grunde gerade durch diesen Ausgleich eine Sicherung
und Verstärkung der Realunion erzielen will.

Wenn man sich erinnert, daß der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand
in der letzten Zeit in Ungarn der Gegenstand wiederholter, heftiger Angriffe
war, die deutlich verraten, daß man in Pest von dem künftigen König einen
sehr kräftigen Widerstand gegen alle über die dualistische Verfassung von 1867
hinausgehenden Ullabhängigkeitsbestrebungen erwartet, dann wird auch die
ganz besondre Hartnäckigkeit begreiflich, mit der man in den leitenden Kreisen
Ungarns darauf besteht, fo rasch als möglich alle Voraussetzungen für die
Restaurierung der Verfassung von 1847 zu schaffen. Wer in diesem höchst
politischen Kampfe schließlich Sieger bleiben wird, läßt sich heute noch nicht
sagen, wenn auch Herrn vou Szell in dem österreichischen Ministerpräsidenten
or. Koerber der bedeutendste Staatsmann gegenübersteht, den das konstitutionelle
Osterreich hervorgebracht hat. Jedenfalls wird es eine schicksalsschwere Stunde
für die österreichisch-ungarische Monarchie sein, in der die Entscheidung über die
Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs fallen wird, denn sie wird nicht nur
für die Gestaltung der wirtschaftlichen, sondern auch für die der politischen und
der staatsrechtlichen Beziehungen zwischen beiden Neichshälften und damit auch
für die künftige internationale Stellung des Habsburgerreiches ausschlag¬
gebend sein.


Julius Patzelt


Vismarck und Garibaldi

rstaunlich schnell wird durch die Memoirenlitteratur, an der wir
gerade heute so reich sind, die Kenntnis der Geschichte unsrer
Tage aufgeschlossen. Entschlüsse und Pläne, die zwanzig bis
dreißig Jahre zurück gefaßt und ausgeführt wurden und nach den
Gepflogenheiten diplomatischer Rücksichten früher ein Jahrhundert
und mehr ein Geheimnis blieben, werden heute durch die Aufzeichnungen von
Zeitgenossen enthüllt. Wir erinnern nur an die Vorgeschichte des deutsch-
französischen Krieges durch die Memoiren des Königs von Rumänien und durch
französische Papiere.

Eine interessante Episode, die in die Geschichte der preußisch-italienischen


Gren,boten II 1902 87
Bismarck und Garibcild!

eine ungarische sein würde. Die zur Vermeidung dieser Entwicklung notwendige
Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs wird aber wesentlich dadurch er¬
schwert, daß einerseits Österreich bessere wirtschaftliche Bedingungen als bisher
oder wenigstens die loyale Einhaltung der Vereinbarungen von Ungarn fordert,
andrerseits Ungarn aber den wirtschaftlichen Ausgleich nur unter Bedingungen
und in Formen erneuern will, die die Forderungen Österreichs nicht genügend
berücksichtigen, aber auch nicht die geringste Gewähr dagegen bieten, daß dieser
Ausgleich nur die letzte Etappe zur Trennung der beiden Ncichshülften sei, die
Krone aber mit gutem Grunde gerade durch diesen Ausgleich eine Sicherung
und Verstärkung der Realunion erzielen will.

Wenn man sich erinnert, daß der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand
in der letzten Zeit in Ungarn der Gegenstand wiederholter, heftiger Angriffe
war, die deutlich verraten, daß man in Pest von dem künftigen König einen
sehr kräftigen Widerstand gegen alle über die dualistische Verfassung von 1867
hinausgehenden Ullabhängigkeitsbestrebungen erwartet, dann wird auch die
ganz besondre Hartnäckigkeit begreiflich, mit der man in den leitenden Kreisen
Ungarns darauf besteht, fo rasch als möglich alle Voraussetzungen für die
Restaurierung der Verfassung von 1847 zu schaffen. Wer in diesem höchst
politischen Kampfe schließlich Sieger bleiben wird, läßt sich heute noch nicht
sagen, wenn auch Herrn vou Szell in dem österreichischen Ministerpräsidenten
or. Koerber der bedeutendste Staatsmann gegenübersteht, den das konstitutionelle
Osterreich hervorgebracht hat. Jedenfalls wird es eine schicksalsschwere Stunde
für die österreichisch-ungarische Monarchie sein, in der die Entscheidung über die
Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs fallen wird, denn sie wird nicht nur
für die Gestaltung der wirtschaftlichen, sondern auch für die der politischen und
der staatsrechtlichen Beziehungen zwischen beiden Neichshälften und damit auch
für die künftige internationale Stellung des Habsburgerreiches ausschlag¬
gebend sein.


Julius Patzelt


Vismarck und Garibaldi

rstaunlich schnell wird durch die Memoirenlitteratur, an der wir
gerade heute so reich sind, die Kenntnis der Geschichte unsrer
Tage aufgeschlossen. Entschlüsse und Pläne, die zwanzig bis
dreißig Jahre zurück gefaßt und ausgeführt wurden und nach den
Gepflogenheiten diplomatischer Rücksichten früher ein Jahrhundert
und mehr ein Geheimnis blieben, werden heute durch die Aufzeichnungen von
Zeitgenossen enthüllt. Wir erinnern nur an die Vorgeschichte des deutsch-
französischen Krieges durch die Memoiren des Königs von Rumänien und durch
französische Papiere.

Eine interessante Episode, die in die Geschichte der preußisch-italienischen


Gren,boten II 1902 87
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[0699] Bismarck und Garibcild! eine ungarische sein würde. Die zur Vermeidung dieser Entwicklung notwendige Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs wird aber wesentlich dadurch er¬ schwert, daß einerseits Österreich bessere wirtschaftliche Bedingungen als bisher oder wenigstens die loyale Einhaltung der Vereinbarungen von Ungarn fordert, andrerseits Ungarn aber den wirtschaftlichen Ausgleich nur unter Bedingungen und in Formen erneuern will, die die Forderungen Österreichs nicht genügend berücksichtigen, aber auch nicht die geringste Gewähr dagegen bieten, daß dieser Ausgleich nur die letzte Etappe zur Trennung der beiden Ncichshülften sei, die Krone aber mit gutem Grunde gerade durch diesen Ausgleich eine Sicherung und Verstärkung der Realunion erzielen will. Wenn man sich erinnert, daß der Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in der letzten Zeit in Ungarn der Gegenstand wiederholter, heftiger Angriffe war, die deutlich verraten, daß man in Pest von dem künftigen König einen sehr kräftigen Widerstand gegen alle über die dualistische Verfassung von 1867 hinausgehenden Ullabhängigkeitsbestrebungen erwartet, dann wird auch die ganz besondre Hartnäckigkeit begreiflich, mit der man in den leitenden Kreisen Ungarns darauf besteht, fo rasch als möglich alle Voraussetzungen für die Restaurierung der Verfassung von 1847 zu schaffen. Wer in diesem höchst politischen Kampfe schließlich Sieger bleiben wird, läßt sich heute noch nicht sagen, wenn auch Herrn vou Szell in dem österreichischen Ministerpräsidenten or. Koerber der bedeutendste Staatsmann gegenübersteht, den das konstitutionelle Osterreich hervorgebracht hat. Jedenfalls wird es eine schicksalsschwere Stunde für die österreichisch-ungarische Monarchie sein, in der die Entscheidung über die Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs fallen wird, denn sie wird nicht nur für die Gestaltung der wirtschaftlichen, sondern auch für die der politischen und der staatsrechtlichen Beziehungen zwischen beiden Neichshälften und damit auch für die künftige internationale Stellung des Habsburgerreiches ausschlag¬ gebend sein. Julius Patzelt Vismarck und Garibaldi rstaunlich schnell wird durch die Memoirenlitteratur, an der wir gerade heute so reich sind, die Kenntnis der Geschichte unsrer Tage aufgeschlossen. Entschlüsse und Pläne, die zwanzig bis dreißig Jahre zurück gefaßt und ausgeführt wurden und nach den Gepflogenheiten diplomatischer Rücksichten früher ein Jahrhundert und mehr ein Geheimnis blieben, werden heute durch die Aufzeichnungen von Zeitgenossen enthüllt. Wir erinnern nur an die Vorgeschichte des deutsch- französischen Krieges durch die Memoiren des Königs von Rumänien und durch französische Papiere. Eine interessante Episode, die in die Geschichte der preußisch-italienischen Gren,boten II 1902 87

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/699>, abgerufen am 29.04.2024.