Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Der Instinkt der Tiere

chon eine oberflächliche Beobachtung des Lebens der Tiere zeigt,
daß es ganz andern Regeln unterworfen ist als das des Menschen.
Der Mensch hat einen Geist, der ihm volle Freiheit des Handelns
gewährt; die Begriffe Religion, Glaube, Aberglaube, Gewissen,
Ehre, Hochmut, Selbstbewußtsein, Stolz, Demut, Begeisterung,
Fanatismus, Vaterlandsliebe, Aufopferung, Idealismus, Phantasie, Wissen¬
schaft, Kunst, Ästhetik, Ethik sind geistig und als solche dem Tiere fremd. Der
Mensch hat als geistiges Wesen freie Selbstbestimmung; er kaun nach Hohem
streben oder dagegen gleichgiltig sein und uur Sinn für materielle Genüsse
haben. Er kann gleichgiltig sein seinem Gewissen und dem Gesetz gegenüber
und blindlings verbrecherischen Trieben folgen; er kann fleißig und ange¬
strengt arbeiten oder jahrelang nichts thun; er kann heiraten oder ehelos bleiben-
Er kann nach seinein Belieben und Vermögen seinen Wohnsitz verändern und
kann sogar selbst in arktische Regionen reisen, wenn es ihm beliebt, die für
das Leben des Menschen nicht geeignet sind, und dort in der arktischen Winter¬
nacht durch Frost und Kälte umkommen. Manche kommen durch ihre Arbeiten
zu hohen Ehren, andre bleiben trotz redlichen Strebens unbekannt und uner¬
kannt, dieser wird reich, jener bleibt arm, manche enden im Zuchthause und auf
dem Schafott; bei völligem moralischem Bankrott, nach einem Verbrechen, auch im
unfreien Zustande der Geisteskrankheit begehn manche Selbstmord, und in ge¬
wissen Kreisen nimmt man an, daß die durch das Verbrechen vernichtete Ehre
durch ein zweites, unsühnbares Verbrechen, das des Selbstmordes, wieder
hergestellt wird. So gestaltet sich das Schicksal des Menschen durch seine
freie Selbstbestimmung unendlich verschieden; der Mensch kann thun, was er
will, nur eins kann er nicht, was jedes Tier kann, ohne Hilfe und ohne An¬
leitung in der Natur existieren. Ein junges Tier ist sehr bald selbständig,
ein einzelnes, junges Menschenkind, in die Natur gesetzt, ist völlig hilflos; es
hat keine Kleidung, keine Wohnung, keine Waffen, es kennt nicht einmal den
Gebrauch des Feuers und würde bald dem Hunger, der Kälte und Raub¬
tieren zur Beute fallen.

Wesentlich anders gestaltet sich das Leben der Tiere; sie haben keine
Waffen, keine Kleidung, kein Feuer, Geisteskrankheiten und Selbstmord kennen
sie nicht. Die bei den Menschen so auffallenden Unterschiede im Können, Ver¬
mögen und Wissen fehlen; sie haben keine freie Selbstbestimmung; den Schutz
den Naturgewalten gegenüber, den der Mensch durch seinen Geist hat, der
Erfahrungen sammelt und diese den Nachkommen überliefert, hat das Tier in
blinden Zwangstrieben, bei jeder Tiergattung andre, die ihm befehlen, was
es thun und lassen soll, und den Geist des Menschen ersetzen.




Der Instinkt der Tiere

chon eine oberflächliche Beobachtung des Lebens der Tiere zeigt,
daß es ganz andern Regeln unterworfen ist als das des Menschen.
Der Mensch hat einen Geist, der ihm volle Freiheit des Handelns
gewährt; die Begriffe Religion, Glaube, Aberglaube, Gewissen,
Ehre, Hochmut, Selbstbewußtsein, Stolz, Demut, Begeisterung,
Fanatismus, Vaterlandsliebe, Aufopferung, Idealismus, Phantasie, Wissen¬
schaft, Kunst, Ästhetik, Ethik sind geistig und als solche dem Tiere fremd. Der
Mensch hat als geistiges Wesen freie Selbstbestimmung; er kaun nach Hohem
streben oder dagegen gleichgiltig sein und uur Sinn für materielle Genüsse
haben. Er kann gleichgiltig sein seinem Gewissen und dem Gesetz gegenüber
und blindlings verbrecherischen Trieben folgen; er kann fleißig und ange¬
strengt arbeiten oder jahrelang nichts thun; er kann heiraten oder ehelos bleiben-
Er kann nach seinein Belieben und Vermögen seinen Wohnsitz verändern und
kann sogar selbst in arktische Regionen reisen, wenn es ihm beliebt, die für
das Leben des Menschen nicht geeignet sind, und dort in der arktischen Winter¬
nacht durch Frost und Kälte umkommen. Manche kommen durch ihre Arbeiten
zu hohen Ehren, andre bleiben trotz redlichen Strebens unbekannt und uner¬
kannt, dieser wird reich, jener bleibt arm, manche enden im Zuchthause und auf
dem Schafott; bei völligem moralischem Bankrott, nach einem Verbrechen, auch im
unfreien Zustande der Geisteskrankheit begehn manche Selbstmord, und in ge¬
wissen Kreisen nimmt man an, daß die durch das Verbrechen vernichtete Ehre
durch ein zweites, unsühnbares Verbrechen, das des Selbstmordes, wieder
hergestellt wird. So gestaltet sich das Schicksal des Menschen durch seine
freie Selbstbestimmung unendlich verschieden; der Mensch kann thun, was er
will, nur eins kann er nicht, was jedes Tier kann, ohne Hilfe und ohne An¬
leitung in der Natur existieren. Ein junges Tier ist sehr bald selbständig,
ein einzelnes, junges Menschenkind, in die Natur gesetzt, ist völlig hilflos; es
hat keine Kleidung, keine Wohnung, keine Waffen, es kennt nicht einmal den
Gebrauch des Feuers und würde bald dem Hunger, der Kälte und Raub¬
tieren zur Beute fallen.

Wesentlich anders gestaltet sich das Leben der Tiere; sie haben keine
Waffen, keine Kleidung, kein Feuer, Geisteskrankheiten und Selbstmord kennen
sie nicht. Die bei den Menschen so auffallenden Unterschiede im Können, Ver¬
mögen und Wissen fehlen; sie haben keine freie Selbstbestimmung; den Schutz
den Naturgewalten gegenüber, den der Mensch durch seinen Geist hat, der
Erfahrungen sammelt und diese den Nachkommen überliefert, hat das Tier in
blinden Zwangstrieben, bei jeder Tiergattung andre, die ihm befehlen, was
es thun und lassen soll, und den Geist des Menschen ersetzen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0720" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/238006"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341875_237285/figures/grenzboten_341875_237285_238006_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der Instinkt der Tiere</head><lb/>
          <p xml:id="ID_3557"> chon eine oberflächliche Beobachtung des Lebens der Tiere zeigt,<lb/>
daß es ganz andern Regeln unterworfen ist als das des Menschen.<lb/>
Der Mensch hat einen Geist, der ihm volle Freiheit des Handelns<lb/>
gewährt; die Begriffe Religion, Glaube, Aberglaube, Gewissen,<lb/>
Ehre, Hochmut, Selbstbewußtsein, Stolz, Demut, Begeisterung,<lb/>
Fanatismus, Vaterlandsliebe, Aufopferung, Idealismus, Phantasie, Wissen¬<lb/>
schaft, Kunst, Ästhetik, Ethik sind geistig und als solche dem Tiere fremd. Der<lb/>
Mensch hat als geistiges Wesen freie Selbstbestimmung; er kaun nach Hohem<lb/>
streben oder dagegen gleichgiltig sein und uur Sinn für materielle Genüsse<lb/>
haben. Er kann gleichgiltig sein seinem Gewissen und dem Gesetz gegenüber<lb/>
und blindlings verbrecherischen Trieben folgen; er kann fleißig und ange¬<lb/>
strengt arbeiten oder jahrelang nichts thun; er kann heiraten oder ehelos bleiben-<lb/>
Er kann nach seinein Belieben und Vermögen seinen Wohnsitz verändern und<lb/>
kann sogar selbst in arktische Regionen reisen, wenn es ihm beliebt, die für<lb/>
das Leben des Menschen nicht geeignet sind, und dort in der arktischen Winter¬<lb/>
nacht durch Frost und Kälte umkommen. Manche kommen durch ihre Arbeiten<lb/>
zu hohen Ehren, andre bleiben trotz redlichen Strebens unbekannt und uner¬<lb/>
kannt, dieser wird reich, jener bleibt arm, manche enden im Zuchthause und auf<lb/>
dem Schafott; bei völligem moralischem Bankrott, nach einem Verbrechen, auch im<lb/>
unfreien Zustande der Geisteskrankheit begehn manche Selbstmord, und in ge¬<lb/>
wissen Kreisen nimmt man an, daß die durch das Verbrechen vernichtete Ehre<lb/>
durch ein zweites, unsühnbares Verbrechen, das des Selbstmordes, wieder<lb/>
hergestellt wird. So gestaltet sich das Schicksal des Menschen durch seine<lb/>
freie Selbstbestimmung unendlich verschieden; der Mensch kann thun, was er<lb/>
will, nur eins kann er nicht, was jedes Tier kann, ohne Hilfe und ohne An¬<lb/>
leitung in der Natur existieren. Ein junges Tier ist sehr bald selbständig,<lb/>
ein einzelnes, junges Menschenkind, in die Natur gesetzt, ist völlig hilflos; es<lb/>
hat keine Kleidung, keine Wohnung, keine Waffen, es kennt nicht einmal den<lb/>
Gebrauch des Feuers und würde bald dem Hunger, der Kälte und Raub¬<lb/>
tieren zur Beute fallen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3558"> Wesentlich anders gestaltet sich das Leben der Tiere; sie haben keine<lb/>
Waffen, keine Kleidung, kein Feuer, Geisteskrankheiten und Selbstmord kennen<lb/>
sie nicht. Die bei den Menschen so auffallenden Unterschiede im Können, Ver¬<lb/>
mögen und Wissen fehlen; sie haben keine freie Selbstbestimmung; den Schutz<lb/>
den Naturgewalten gegenüber, den der Mensch durch seinen Geist hat, der<lb/>
Erfahrungen sammelt und diese den Nachkommen überliefert, hat das Tier in<lb/>
blinden Zwangstrieben, bei jeder Tiergattung andre, die ihm befehlen, was<lb/>
es thun und lassen soll, und den Geist des Menschen ersetzen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0720] [Abbildung] Der Instinkt der Tiere chon eine oberflächliche Beobachtung des Lebens der Tiere zeigt, daß es ganz andern Regeln unterworfen ist als das des Menschen. Der Mensch hat einen Geist, der ihm volle Freiheit des Handelns gewährt; die Begriffe Religion, Glaube, Aberglaube, Gewissen, Ehre, Hochmut, Selbstbewußtsein, Stolz, Demut, Begeisterung, Fanatismus, Vaterlandsliebe, Aufopferung, Idealismus, Phantasie, Wissen¬ schaft, Kunst, Ästhetik, Ethik sind geistig und als solche dem Tiere fremd. Der Mensch hat als geistiges Wesen freie Selbstbestimmung; er kaun nach Hohem streben oder dagegen gleichgiltig sein und uur Sinn für materielle Genüsse haben. Er kann gleichgiltig sein seinem Gewissen und dem Gesetz gegenüber und blindlings verbrecherischen Trieben folgen; er kann fleißig und ange¬ strengt arbeiten oder jahrelang nichts thun; er kann heiraten oder ehelos bleiben- Er kann nach seinein Belieben und Vermögen seinen Wohnsitz verändern und kann sogar selbst in arktische Regionen reisen, wenn es ihm beliebt, die für das Leben des Menschen nicht geeignet sind, und dort in der arktischen Winter¬ nacht durch Frost und Kälte umkommen. Manche kommen durch ihre Arbeiten zu hohen Ehren, andre bleiben trotz redlichen Strebens unbekannt und uner¬ kannt, dieser wird reich, jener bleibt arm, manche enden im Zuchthause und auf dem Schafott; bei völligem moralischem Bankrott, nach einem Verbrechen, auch im unfreien Zustande der Geisteskrankheit begehn manche Selbstmord, und in ge¬ wissen Kreisen nimmt man an, daß die durch das Verbrechen vernichtete Ehre durch ein zweites, unsühnbares Verbrechen, das des Selbstmordes, wieder hergestellt wird. So gestaltet sich das Schicksal des Menschen durch seine freie Selbstbestimmung unendlich verschieden; der Mensch kann thun, was er will, nur eins kann er nicht, was jedes Tier kann, ohne Hilfe und ohne An¬ leitung in der Natur existieren. Ein junges Tier ist sehr bald selbständig, ein einzelnes, junges Menschenkind, in die Natur gesetzt, ist völlig hilflos; es hat keine Kleidung, keine Wohnung, keine Waffen, es kennt nicht einmal den Gebrauch des Feuers und würde bald dem Hunger, der Kälte und Raub¬ tieren zur Beute fallen. Wesentlich anders gestaltet sich das Leben der Tiere; sie haben keine Waffen, keine Kleidung, kein Feuer, Geisteskrankheiten und Selbstmord kennen sie nicht. Die bei den Menschen so auffallenden Unterschiede im Können, Ver¬ mögen und Wissen fehlen; sie haben keine freie Selbstbestimmung; den Schutz den Naturgewalten gegenüber, den der Mensch durch seinen Geist hat, der Erfahrungen sammelt und diese den Nachkommen überliefert, hat das Tier in blinden Zwangstrieben, bei jeder Tiergattung andre, die ihm befehlen, was es thun und lassen soll, und den Geist des Menschen ersetzen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/720
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_237285/720>, abgerufen am 29.04.2024.