Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Siogeszug des Kapitalismus

Wohnungen mit etwas Garten und begünstige durch Hergabe von Land und
durch Vorschuß zu 1'^ bis 2 Prozent die Beamten, namentlich der Stadt
Posen, die sich seßhaft machen wollen.




Der ^>iegeszug des Kapitalismus
(Schluß)

IN achtzehnten Jahrhundert beginnen die Hemmungen zu schwinden.
Die Kriege werden seltner und weniger blutig, der Seuche" er¬
wehrt man sich, die Volkszahl steigt, und das Freilnnd, wohin
bis dahin bedrängte Existenzen ausweichen konnten, wird knapp;
im neunzehnten Jahrhundert geht es auch in Nordamerika zu
Ende. Nun bleibt den Entwurzelten nichts mehr übrig, als im Dienste des
Kapitals ihr Brot zu suchen. Um 1750 ist in England, durch die Aufrichtung
des Julikönigtums in Frankreich, nach der Umwälzung voll 1848 in Deutsch¬
land der Sieg des Kapitalismus entschieden. Fortan gilt die Losung: DurielriWs?.-
vou8! Im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Deutschland noch ein
Bauernland, und auch noch im Jahre 1843 machte die landwirtschaftliche Be¬
völkerung in Preußen noch über 61 (in Bayern beinahe 66), die stoffverarbeitende
Bevölkerung, die gewerbthütige im engern Sinne, wenig über 23, die handel¬
treibende kaum 1 Prozent der Bevölkerung aus. Die Organisation des Handwerks
bestand noch unversehrt, die Hausfrau spann, webte und schneiderte noch und
goß die Talgkerzen fürs Hans noch selbst, sodaß "der Charakter des deutschen
Wirtschaftslebens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, also am Ende
der frühkapitalistischen Epoche fPeriode!j, nicht so arg verschieden war von dem,
den das Wirtschaftsleben um 1350 oder wenigstens um 1450 trug." Erst 1850
beginnt die ungeheure Wandlung, "die uns in fünfzig Jahren weiter vom Aus¬
gangspunkte entfernt, als es früher fünfhundert Jahre vermocht hatten." Sie
hatte sich ja in einzelnen Symptomen angekündigt, die große Wandlung. Zwar
^e Eisenindustrie war noch sehr schwach. Anfang der vierziger Jahre gab es
un Siegener Lande noch keinen Kokshochvsen, und der deutsche Hochofen pro¬
duzierte jährlich 7000 Zentner -- der englische 70000, der heutige deutsche
618000; und die Zahlen des damaligen Auslandhandels verleiten dazu, die
^"twicklungsreife dieser Periode zu überschätzen. Weil damals der Seeweg
noch der einzige bequeme und wohlfeile, der Transport zu Lande beschwerlich,
kostspielig und stellenweise unmöglich war, machte damals die Ausfuhrmcnge
^inen viel größern Teil der heimischen Produktion aus als heute. Die Textil¬
industrie, die Hernbdrückung vieler Handwerker zu Magazinlieferanten und die
Steigerung der städtischen Grundrente, die zur Bodenspekulation verleitet, das
waren die Gebiete, auf denen sich die Übermacht des Kapitals zuerst empfind¬
lich bemerkbar machte. Selbstverständlich haben die Eisenbahnen, die in den
herziger Jahren ansingen, für den Verkehr Bedeutung zu erlangen, den Prozeß


Der Siogeszug des Kapitalismus

Wohnungen mit etwas Garten und begünstige durch Hergabe von Land und
durch Vorschuß zu 1'^ bis 2 Prozent die Beamten, namentlich der Stadt
Posen, die sich seßhaft machen wollen.




Der ^>iegeszug des Kapitalismus
(Schluß)

IN achtzehnten Jahrhundert beginnen die Hemmungen zu schwinden.
Die Kriege werden seltner und weniger blutig, der Seuche» er¬
wehrt man sich, die Volkszahl steigt, und das Freilnnd, wohin
bis dahin bedrängte Existenzen ausweichen konnten, wird knapp;
im neunzehnten Jahrhundert geht es auch in Nordamerika zu
Ende. Nun bleibt den Entwurzelten nichts mehr übrig, als im Dienste des
Kapitals ihr Brot zu suchen. Um 1750 ist in England, durch die Aufrichtung
des Julikönigtums in Frankreich, nach der Umwälzung voll 1848 in Deutsch¬
land der Sieg des Kapitalismus entschieden. Fortan gilt die Losung: DurielriWs?.-
vou8! Im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Deutschland noch ein
Bauernland, und auch noch im Jahre 1843 machte die landwirtschaftliche Be¬
völkerung in Preußen noch über 61 (in Bayern beinahe 66), die stoffverarbeitende
Bevölkerung, die gewerbthütige im engern Sinne, wenig über 23, die handel¬
treibende kaum 1 Prozent der Bevölkerung aus. Die Organisation des Handwerks
bestand noch unversehrt, die Hausfrau spann, webte und schneiderte noch und
goß die Talgkerzen fürs Hans noch selbst, sodaß „der Charakter des deutschen
Wirtschaftslebens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, also am Ende
der frühkapitalistischen Epoche fPeriode!j, nicht so arg verschieden war von dem,
den das Wirtschaftsleben um 1350 oder wenigstens um 1450 trug." Erst 1850
beginnt die ungeheure Wandlung, „die uns in fünfzig Jahren weiter vom Aus¬
gangspunkte entfernt, als es früher fünfhundert Jahre vermocht hatten." Sie
hatte sich ja in einzelnen Symptomen angekündigt, die große Wandlung. Zwar
^e Eisenindustrie war noch sehr schwach. Anfang der vierziger Jahre gab es
un Siegener Lande noch keinen Kokshochvsen, und der deutsche Hochofen pro¬
duzierte jährlich 7000 Zentner — der englische 70000, der heutige deutsche
618000; und die Zahlen des damaligen Auslandhandels verleiten dazu, die
^»twicklungsreife dieser Periode zu überschätzen. Weil damals der Seeweg
noch der einzige bequeme und wohlfeile, der Transport zu Lande beschwerlich,
kostspielig und stellenweise unmöglich war, machte damals die Ausfuhrmcnge
^inen viel größern Teil der heimischen Produktion aus als heute. Die Textil¬
industrie, die Hernbdrückung vieler Handwerker zu Magazinlieferanten und die
Steigerung der städtischen Grundrente, die zur Bodenspekulation verleitet, das
waren die Gebiete, auf denen sich die Übermacht des Kapitals zuerst empfind¬
lich bemerkbar machte. Selbstverständlich haben die Eisenbahnen, die in den
herziger Jahren ansingen, für den Verkehr Bedeutung zu erlangen, den Prozeß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0353" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239141"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Siogeszug des Kapitalismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1760" prev="#ID_1759"> Wohnungen mit etwas Garten und begünstige durch Hergabe von Land und<lb/>
durch Vorschuß zu 1'^ bis 2 Prozent die Beamten, namentlich der Stadt<lb/>
Posen, die sich seßhaft machen wollen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der ^&gt;iegeszug des Kapitalismus<lb/>
(Schluß) </head><lb/>
          <p xml:id="ID_1761" next="#ID_1762"> IN achtzehnten Jahrhundert beginnen die Hemmungen zu schwinden.<lb/>
Die Kriege werden seltner und weniger blutig, der Seuche» er¬<lb/>
wehrt man sich, die Volkszahl steigt, und das Freilnnd, wohin<lb/>
bis dahin bedrängte Existenzen ausweichen konnten, wird knapp;<lb/>
im neunzehnten Jahrhundert geht es auch in Nordamerika zu<lb/>
Ende. Nun bleibt den Entwurzelten nichts mehr übrig, als im Dienste des<lb/>
Kapitals ihr Brot zu suchen. Um 1750 ist in England, durch die Aufrichtung<lb/>
des Julikönigtums in Frankreich, nach der Umwälzung voll 1848 in Deutsch¬<lb/>
land der Sieg des Kapitalismus entschieden. Fortan gilt die Losung: DurielriWs?.-<lb/>
vou8! Im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Deutschland noch ein<lb/>
Bauernland, und auch noch im Jahre 1843 machte die landwirtschaftliche Be¬<lb/>
völkerung in Preußen noch über 61 (in Bayern beinahe 66), die stoffverarbeitende<lb/>
Bevölkerung, die gewerbthütige im engern Sinne, wenig über 23, die handel¬<lb/>
treibende kaum 1 Prozent der Bevölkerung aus. Die Organisation des Handwerks<lb/>
bestand noch unversehrt, die Hausfrau spann, webte und schneiderte noch und<lb/>
goß die Talgkerzen fürs Hans noch selbst, sodaß &#x201E;der Charakter des deutschen<lb/>
Wirtschaftslebens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, also am Ende<lb/>
der frühkapitalistischen Epoche fPeriode!j, nicht so arg verschieden war von dem,<lb/>
den das Wirtschaftsleben um 1350 oder wenigstens um 1450 trug." Erst 1850<lb/>
beginnt die ungeheure Wandlung, &#x201E;die uns in fünfzig Jahren weiter vom Aus¬<lb/>
gangspunkte entfernt, als es früher fünfhundert Jahre vermocht hatten." Sie<lb/>
hatte sich ja in einzelnen Symptomen angekündigt, die große Wandlung. Zwar<lb/>
^e Eisenindustrie war noch sehr schwach. Anfang der vierziger Jahre gab es<lb/>
un Siegener Lande noch keinen Kokshochvsen, und der deutsche Hochofen pro¬<lb/>
duzierte jährlich 7000 Zentner &#x2014; der englische 70000, der heutige deutsche<lb/>
618000; und die Zahlen des damaligen Auslandhandels verleiten dazu, die<lb/>
^»twicklungsreife dieser Periode zu überschätzen. Weil damals der Seeweg<lb/>
noch der einzige bequeme und wohlfeile, der Transport zu Lande beschwerlich,<lb/>
kostspielig und stellenweise unmöglich war, machte damals die Ausfuhrmcnge<lb/>
^inen viel größern Teil der heimischen Produktion aus als heute. Die Textil¬<lb/>
industrie, die Hernbdrückung vieler Handwerker zu Magazinlieferanten und die<lb/>
Steigerung der städtischen Grundrente, die zur Bodenspekulation verleitet, das<lb/>
waren die Gebiete, auf denen sich die Übermacht des Kapitals zuerst empfind¬<lb/>
lich bemerkbar machte. Selbstverständlich haben die Eisenbahnen, die in den<lb/>
herziger Jahren ansingen, für den Verkehr Bedeutung zu erlangen, den Prozeß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0353] Der Siogeszug des Kapitalismus Wohnungen mit etwas Garten und begünstige durch Hergabe von Land und durch Vorschuß zu 1'^ bis 2 Prozent die Beamten, namentlich der Stadt Posen, die sich seßhaft machen wollen. Der ^>iegeszug des Kapitalismus (Schluß) IN achtzehnten Jahrhundert beginnen die Hemmungen zu schwinden. Die Kriege werden seltner und weniger blutig, der Seuche» er¬ wehrt man sich, die Volkszahl steigt, und das Freilnnd, wohin bis dahin bedrängte Existenzen ausweichen konnten, wird knapp; im neunzehnten Jahrhundert geht es auch in Nordamerika zu Ende. Nun bleibt den Entwurzelten nichts mehr übrig, als im Dienste des Kapitals ihr Brot zu suchen. Um 1750 ist in England, durch die Aufrichtung des Julikönigtums in Frankreich, nach der Umwälzung voll 1848 in Deutsch¬ land der Sieg des Kapitalismus entschieden. Fortan gilt die Losung: DurielriWs?.- vou8! Im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts war Deutschland noch ein Bauernland, und auch noch im Jahre 1843 machte die landwirtschaftliche Be¬ völkerung in Preußen noch über 61 (in Bayern beinahe 66), die stoffverarbeitende Bevölkerung, die gewerbthütige im engern Sinne, wenig über 23, die handel¬ treibende kaum 1 Prozent der Bevölkerung aus. Die Organisation des Handwerks bestand noch unversehrt, die Hausfrau spann, webte und schneiderte noch und goß die Talgkerzen fürs Hans noch selbst, sodaß „der Charakter des deutschen Wirtschaftslebens um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, also am Ende der frühkapitalistischen Epoche fPeriode!j, nicht so arg verschieden war von dem, den das Wirtschaftsleben um 1350 oder wenigstens um 1450 trug." Erst 1850 beginnt die ungeheure Wandlung, „die uns in fünfzig Jahren weiter vom Aus¬ gangspunkte entfernt, als es früher fünfhundert Jahre vermocht hatten." Sie hatte sich ja in einzelnen Symptomen angekündigt, die große Wandlung. Zwar ^e Eisenindustrie war noch sehr schwach. Anfang der vierziger Jahre gab es un Siegener Lande noch keinen Kokshochvsen, und der deutsche Hochofen pro¬ duzierte jährlich 7000 Zentner — der englische 70000, der heutige deutsche 618000; und die Zahlen des damaligen Auslandhandels verleiten dazu, die ^»twicklungsreife dieser Periode zu überschätzen. Weil damals der Seeweg noch der einzige bequeme und wohlfeile, der Transport zu Lande beschwerlich, kostspielig und stellenweise unmöglich war, machte damals die Ausfuhrmcnge ^inen viel größern Teil der heimischen Produktion aus als heute. Die Textil¬ industrie, die Hernbdrückung vieler Handwerker zu Magazinlieferanten und die Steigerung der städtischen Grundrente, die zur Bodenspekulation verleitet, das waren die Gebiete, auf denen sich die Übermacht des Kapitals zuerst empfind¬ lich bemerkbar machte. Selbstverständlich haben die Eisenbahnen, die in den herziger Jahren ansingen, für den Verkehr Bedeutung zu erlangen, den Prozeß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/353
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/353>, abgerufen am 02.05.2024.