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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr.

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Bewußtes und unbewußtes Streben im staatlichen Leben des Reichslcindes

Möge sich diese Erkenntnis endlich im Zieutrnm, namentlich im preußischen
Zentrum, verallgemeinern, um tüchtigen Männern, die innerlich längst ans
diesem Standpunkt stehn, sehlt es nicht. Dann wird endlich auch in Deutsch¬
land die Zeit heraubrechen, Um weniger geredet und mehr gehandelt wird.
Nehmen wir uns die Engländer in der Kunst des politischen Schweigens und
dabei kräftigen, klare" Handelns zum Vorbild. Sie sind uns ohnehin weit
voraus, weil sie nach großen, festen Zielen streben, und weil, von den Iren
abgesehen, alle Parteien von einem starken Gefühl für die Macht und die
Größe des Landes beseelt sind. Nur in diesem Vorbilde wird unser Volk zu
politischer Reife, nur so zu fernen Zielen gelangen und nicht von einer Gesetz-
gcbnngsperiode zur andern aus der Hand in den Mund leben, während es die
reichen Früchte einer großen opfervolleu Zeit in innerm Hader vergeudet. ^ ,

Es gibt ernste Patrioten genug, die in der Ansicht verharren, daß das
Zentrum in den Anfängen des Kulturkampfs den bissigen Köter Sozial¬
demokratie auf den Staat losgelassen habe, das Zentrum oder die hinter ihm
stehenden Kräfte. Richtig ist, daß Bebel und Hasenelever aus katholischen
Schichten hervorgegangen sind, und daß beide Parteien bis in die neueste Zeit
sorglich vermieden haben, einander wehe zu tun. Jede war der andern sicher.
Erst seit dem Zolltarif ist in diesen Zweibund ein Riß gekommen. Die weitere
Entwicklung liegt bei der Stellung, die das Zentrum in den Wahlen nehmen
wird. Unterstützt es ehrlich jeden aiitisozialdenuikratischen.Kandidateii, der die
meisten Stimmen ans sich vereinigt, so bekundet es damit, daß es fest ans dem
Boden unsers nationalen Staates steht, und es hat vollen Anspruch auf die
Gegenleistung der andern Parteien. Nur so werden wir wieder zu vollem
Frieden gelangen. Der Zcntrumswähler darf nicht mehr den svzinldcmokratischen
Kandidaten als das kleinere von zwei Übeln bevorzugen, der liberale Wähler
nicht den Gefolgsmann Bebels vor dem Zentrumsmann. Erst wenn ein solches
Gemeingefühl, ein derartig ausgeprägter Staatssiu" die Mehrheit der
^ Wähler erfüllt, werden wir auch im Reichstage wieder vorwärts komme".




Bewußtes und unbewußtes Streben im staatlichen Leben
des Reichslandes

le eiuzelue Meuscheu werden auch Volksmassen sichrer an einem
Faden von Hoffnung als um einem Seile von Dankbarkeit ge¬
leitet. Die Hoffnung des Neichslaudes, den Dittatnrparagraphen
fallen zu sehen, ist erfüllt: es gilt also dort für staatliche Fort¬
schritte weitere Ziele aufzustellen. Am schnellsten ist hierfür daS
Zentrum auf den Plan getreten. Es sagt zu den Elsaß-Lothringern: Werdet
nur rasch stramme Zentrnmsleute, so wird euch alles andre zufallen. Zentrum
ist im innern deutschen Parteigetriebe Trumpf, und mit ihm muß jede Re¬
gierung rechne". Die Aussichten auf einen Zuwachs an Reichstagsmitgliedern
aus dem Reichslande sind für das Zentrum nicht ungünstig, denn die Klerikalen


Bewußtes und unbewußtes Streben im staatlichen Leben des Reichslcindes

Möge sich diese Erkenntnis endlich im Zieutrnm, namentlich im preußischen
Zentrum, verallgemeinern, um tüchtigen Männern, die innerlich längst ans
diesem Standpunkt stehn, sehlt es nicht. Dann wird endlich auch in Deutsch¬
land die Zeit heraubrechen, Um weniger geredet und mehr gehandelt wird.
Nehmen wir uns die Engländer in der Kunst des politischen Schweigens und
dabei kräftigen, klare» Handelns zum Vorbild. Sie sind uns ohnehin weit
voraus, weil sie nach großen, festen Zielen streben, und weil, von den Iren
abgesehen, alle Parteien von einem starken Gefühl für die Macht und die
Größe des Landes beseelt sind. Nur in diesem Vorbilde wird unser Volk zu
politischer Reife, nur so zu fernen Zielen gelangen und nicht von einer Gesetz-
gcbnngsperiode zur andern aus der Hand in den Mund leben, während es die
reichen Früchte einer großen opfervolleu Zeit in innerm Hader vergeudet. ^ ,

Es gibt ernste Patrioten genug, die in der Ansicht verharren, daß das
Zentrum in den Anfängen des Kulturkampfs den bissigen Köter Sozial¬
demokratie auf den Staat losgelassen habe, das Zentrum oder die hinter ihm
stehenden Kräfte. Richtig ist, daß Bebel und Hasenelever aus katholischen
Schichten hervorgegangen sind, und daß beide Parteien bis in die neueste Zeit
sorglich vermieden haben, einander wehe zu tun. Jede war der andern sicher.
Erst seit dem Zolltarif ist in diesen Zweibund ein Riß gekommen. Die weitere
Entwicklung liegt bei der Stellung, die das Zentrum in den Wahlen nehmen
wird. Unterstützt es ehrlich jeden aiitisozialdenuikratischen.Kandidateii, der die
meisten Stimmen ans sich vereinigt, so bekundet es damit, daß es fest ans dem
Boden unsers nationalen Staates steht, und es hat vollen Anspruch auf die
Gegenleistung der andern Parteien. Nur so werden wir wieder zu vollem
Frieden gelangen. Der Zcntrumswähler darf nicht mehr den svzinldcmokratischen
Kandidaten als das kleinere von zwei Übeln bevorzugen, der liberale Wähler
nicht den Gefolgsmann Bebels vor dem Zentrumsmann. Erst wenn ein solches
Gemeingefühl, ein derartig ausgeprägter Staatssiu» die Mehrheit der
^ Wähler erfüllt, werden wir auch im Reichstage wieder vorwärts komme».




Bewußtes und unbewußtes Streben im staatlichen Leben
des Reichslandes

le eiuzelue Meuscheu werden auch Volksmassen sichrer an einem
Faden von Hoffnung als um einem Seile von Dankbarkeit ge¬
leitet. Die Hoffnung des Neichslaudes, den Dittatnrparagraphen
fallen zu sehen, ist erfüllt: es gilt also dort für staatliche Fort¬
schritte weitere Ziele aufzustellen. Am schnellsten ist hierfür daS
Zentrum auf den Plan getreten. Es sagt zu den Elsaß-Lothringern: Werdet
nur rasch stramme Zentrnmsleute, so wird euch alles andre zufallen. Zentrum
ist im innern deutschen Parteigetriebe Trumpf, und mit ihm muß jede Re¬
gierung rechne». Die Aussichten auf einen Zuwachs an Reichstagsmitgliedern
aus dem Reichslande sind für das Zentrum nicht ungünstig, denn die Klerikalen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_240381/132>, abgerufen am 04.05.2024.