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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Seelen

hatten doch schließlich auf unsre Spur geführt, und ich kam eben zur rechten Zeit
nach Haus, um darüber vernommen zu werdeu. Die schone Familie war inzwischen
eingesperrt worden von dem guten Mahle weg, mit dem sie mir eine Ehre hatten
antun wollen, und sahen sich plötzlich zu Wasser und Brot verdammt. Sie leugneten
anfangs hartnäckig, da aber der Spezereihäudlcr ohne weiteres gestand, so gaben
sie ebenfalls nach und beugten den Kopf unter ihr Schicksal. Mich schonten alle
bei ihrer Aussage, ich erschien vor Gericht nicht als ein werdendes Licht, als der
kleine gescheite Bursche, als der ich bisher gegolten hatte, sondern als ein kleiner
dummer Junge, der eben nur mit gelaufen war. Das kränkte mich ein wenig und
erfüllte mich zugleich mit unaussprechlicher Dankbarkeit. Daß Schöne schon wieder
ein Steinchen für die Zukunft zurecht legte, als er mich uach Möglichkeit entlastete,
habe ich erst später erkannt, damals rechnete ich es ihm als Menschenfreundlichkeit
und Güte ein. So war das Ende denn, daß Schöne gleich dem Händler auf
mehrere Jahre ins Zuchthaus wanderte, während ich mit Schönes Jungen auf vier
Wochen ius Gefängnis gehn sollte. Dagegen fand Frau Schöne noch ein Löchelchen,
durch das sie entschlüpfen konnte.

Das war nun der erste Schritt ins Leben hinein. Hätte mir jetzt nur jemand
ein gutes Wort gesagt, vielleicht hätte es bei der vercingsteteu Stimmung, in der
ich war, Eindruck gemacht. Aber meine Eltern waren fern, die Tante bekümmerte
sich nicht um mich, und mein einziger Freund, Schöne, saß selber in der Falle. Im
Gefängnis geriet ich unter einen Trupp junger Leute, von denen einige in meinen
Jahren, die meisten jedoch mir im Alter voraus waren und jedenfalls mich an
Erfahrung überragten. Ich war in völliger Zerknirschung unter sie gekommen und
hatte mir gelobt, ein braver Junge zu werden. Die erste" Tage hatte ich fort¬
während mit Trauen zu kämpfen, und hätte man mich nach diesem schreckhaften
Eindruck Hinausgclassen, so würde die Strafe wohl uicht ohne Nutzen für mich
gewesen sein. Aber ich hatte mich auf vier Wochen einzurichten und kam alsbald
zu der Erkenntnis, daß es, diese Zeit für mich erträglich zu gestalten, vor allem
nötig sei, mit meinen Schicksalsgenossen in el" gutes Verhältnis zu kommen. Sie
hatten mich wegen meines schüchternen, weinerlichen Wesens für ein Muttersöhnchen
gehalten und machten sich den Spaß, mich in immer neue Angst hineinzuschenchen
und mir jeglichen Tort anzutun. Daß ich ihnen mit meinen Tränen nicht gefallen
konnte, war uicht weiter zum Verwundern, aber auch meinen Wärtern wurde ich
dadurch nicht lieber; sie schienen vielmehr ein Gefallen gerade an den leichtsinnigsten
meiner Genossen zu haben, weil ihnen diese keine Umstände machten, sondern sich
mit aller Ruhe in ihr Schicksal fanden. Nach wenig Tagen ließ ich denn auch meine
Tränen versiegen, und nachdem ich eine Weile zugehört hatte, fing ich an, von mir
selber zu erzählen, und da ich vor den beiden Söhnen meines alten Meisters
Schöne, die zugleich mit mir ihre Strafe verbüßten, doch nicht nach Belieben auf¬
schneiden konnte, so nahm ich mir mein Leipziger Abenteuer vor und spann daraus
eine Geschichte, in der ich nicht mehr das arme geschorne Lamm war, sondern ein
entschloßnes Kerlchen, das sich sehen lassen konnte. Und als ich mir erst ein
Phantasiestückchen mit dem gewünschten Erfolg geleistet hatte, bekam ich Geschmack
an den Aufschneidereien und belog und betrog meine Genossen auf das unverschämteste,
wofür ich freilich von ihnen mit gleicher Münze bezahlt wurde. Als die vier Wochen
herum waren, stand ich im Leben da als ein Mensch, der seinen Platz unter den
anständigen Leuten eingebüßt hatte, dafür aber von einer Anzahl kleiner verwegner
Burschen der Freundschaft und Achtung gewürdigt wurde. Ich war im Gefängnis
gewesen und hatte gesehen, daß man, wenn man sich in die Umstände zu schicken
wisse, auch da leben und Ehre gewinnen könne.


7 '

Als ich aus demi Tore trat, stand mein Vater vor mir. Er hatte Tränen im
Ange, und wie er denn überhaupt ein sehr einsichtiger und verständiger Mann
war, überschüttete er mich jetzt nicht mit Vorwürfen, sondern war freundlich und


Zwei Seelen

hatten doch schließlich auf unsre Spur geführt, und ich kam eben zur rechten Zeit
nach Haus, um darüber vernommen zu werdeu. Die schone Familie war inzwischen
eingesperrt worden von dem guten Mahle weg, mit dem sie mir eine Ehre hatten
antun wollen, und sahen sich plötzlich zu Wasser und Brot verdammt. Sie leugneten
anfangs hartnäckig, da aber der Spezereihäudlcr ohne weiteres gestand, so gaben
sie ebenfalls nach und beugten den Kopf unter ihr Schicksal. Mich schonten alle
bei ihrer Aussage, ich erschien vor Gericht nicht als ein werdendes Licht, als der
kleine gescheite Bursche, als der ich bisher gegolten hatte, sondern als ein kleiner
dummer Junge, der eben nur mit gelaufen war. Das kränkte mich ein wenig und
erfüllte mich zugleich mit unaussprechlicher Dankbarkeit. Daß Schöne schon wieder
ein Steinchen für die Zukunft zurecht legte, als er mich uach Möglichkeit entlastete,
habe ich erst später erkannt, damals rechnete ich es ihm als Menschenfreundlichkeit
und Güte ein. So war das Ende denn, daß Schöne gleich dem Händler auf
mehrere Jahre ins Zuchthaus wanderte, während ich mit Schönes Jungen auf vier
Wochen ius Gefängnis gehn sollte. Dagegen fand Frau Schöne noch ein Löchelchen,
durch das sie entschlüpfen konnte.

Das war nun der erste Schritt ins Leben hinein. Hätte mir jetzt nur jemand
ein gutes Wort gesagt, vielleicht hätte es bei der vercingsteteu Stimmung, in der
ich war, Eindruck gemacht. Aber meine Eltern waren fern, die Tante bekümmerte
sich nicht um mich, und mein einziger Freund, Schöne, saß selber in der Falle. Im
Gefängnis geriet ich unter einen Trupp junger Leute, von denen einige in meinen
Jahren, die meisten jedoch mir im Alter voraus waren und jedenfalls mich an
Erfahrung überragten. Ich war in völliger Zerknirschung unter sie gekommen und
hatte mir gelobt, ein braver Junge zu werden. Die erste» Tage hatte ich fort¬
während mit Trauen zu kämpfen, und hätte man mich nach diesem schreckhaften
Eindruck Hinausgclassen, so würde die Strafe wohl uicht ohne Nutzen für mich
gewesen sein. Aber ich hatte mich auf vier Wochen einzurichten und kam alsbald
zu der Erkenntnis, daß es, diese Zeit für mich erträglich zu gestalten, vor allem
nötig sei, mit meinen Schicksalsgenossen in el» gutes Verhältnis zu kommen. Sie
hatten mich wegen meines schüchternen, weinerlichen Wesens für ein Muttersöhnchen
gehalten und machten sich den Spaß, mich in immer neue Angst hineinzuschenchen
und mir jeglichen Tort anzutun. Daß ich ihnen mit meinen Tränen nicht gefallen
konnte, war uicht weiter zum Verwundern, aber auch meinen Wärtern wurde ich
dadurch nicht lieber; sie schienen vielmehr ein Gefallen gerade an den leichtsinnigsten
meiner Genossen zu haben, weil ihnen diese keine Umstände machten, sondern sich
mit aller Ruhe in ihr Schicksal fanden. Nach wenig Tagen ließ ich denn auch meine
Tränen versiegen, und nachdem ich eine Weile zugehört hatte, fing ich an, von mir
selber zu erzählen, und da ich vor den beiden Söhnen meines alten Meisters
Schöne, die zugleich mit mir ihre Strafe verbüßten, doch nicht nach Belieben auf¬
schneiden konnte, so nahm ich mir mein Leipziger Abenteuer vor und spann daraus
eine Geschichte, in der ich nicht mehr das arme geschorne Lamm war, sondern ein
entschloßnes Kerlchen, das sich sehen lassen konnte. Und als ich mir erst ein
Phantasiestückchen mit dem gewünschten Erfolg geleistet hatte, bekam ich Geschmack
an den Aufschneidereien und belog und betrog meine Genossen auf das unverschämteste,
wofür ich freilich von ihnen mit gleicher Münze bezahlt wurde. Als die vier Wochen
herum waren, stand ich im Leben da als ein Mensch, der seinen Platz unter den
anständigen Leuten eingebüßt hatte, dafür aber von einer Anzahl kleiner verwegner
Burschen der Freundschaft und Achtung gewürdigt wurde. Ich war im Gefängnis
gewesen und hatte gesehen, daß man, wenn man sich in die Umstände zu schicken
wisse, auch da leben und Ehre gewinnen könne.


7 '

Als ich aus demi Tore trat, stand mein Vater vor mir. Er hatte Tränen im
Ange, und wie er denn überhaupt ein sehr einsichtiger und verständiger Mann
war, überschüttete er mich jetzt nicht mit Vorwürfen, sondern war freundlich und


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[0138] Zwei Seelen hatten doch schließlich auf unsre Spur geführt, und ich kam eben zur rechten Zeit nach Haus, um darüber vernommen zu werdeu. Die schone Familie war inzwischen eingesperrt worden von dem guten Mahle weg, mit dem sie mir eine Ehre hatten antun wollen, und sahen sich plötzlich zu Wasser und Brot verdammt. Sie leugneten anfangs hartnäckig, da aber der Spezereihäudlcr ohne weiteres gestand, so gaben sie ebenfalls nach und beugten den Kopf unter ihr Schicksal. Mich schonten alle bei ihrer Aussage, ich erschien vor Gericht nicht als ein werdendes Licht, als der kleine gescheite Bursche, als der ich bisher gegolten hatte, sondern als ein kleiner dummer Junge, der eben nur mit gelaufen war. Das kränkte mich ein wenig und erfüllte mich zugleich mit unaussprechlicher Dankbarkeit. Daß Schöne schon wieder ein Steinchen für die Zukunft zurecht legte, als er mich uach Möglichkeit entlastete, habe ich erst später erkannt, damals rechnete ich es ihm als Menschenfreundlichkeit und Güte ein. So war das Ende denn, daß Schöne gleich dem Händler auf mehrere Jahre ins Zuchthaus wanderte, während ich mit Schönes Jungen auf vier Wochen ius Gefängnis gehn sollte. Dagegen fand Frau Schöne noch ein Löchelchen, durch das sie entschlüpfen konnte. Das war nun der erste Schritt ins Leben hinein. Hätte mir jetzt nur jemand ein gutes Wort gesagt, vielleicht hätte es bei der vercingsteteu Stimmung, in der ich war, Eindruck gemacht. Aber meine Eltern waren fern, die Tante bekümmerte sich nicht um mich, und mein einziger Freund, Schöne, saß selber in der Falle. Im Gefängnis geriet ich unter einen Trupp junger Leute, von denen einige in meinen Jahren, die meisten jedoch mir im Alter voraus waren und jedenfalls mich an Erfahrung überragten. Ich war in völliger Zerknirschung unter sie gekommen und hatte mir gelobt, ein braver Junge zu werden. Die erste» Tage hatte ich fort¬ während mit Trauen zu kämpfen, und hätte man mich nach diesem schreckhaften Eindruck Hinausgclassen, so würde die Strafe wohl uicht ohne Nutzen für mich gewesen sein. Aber ich hatte mich auf vier Wochen einzurichten und kam alsbald zu der Erkenntnis, daß es, diese Zeit für mich erträglich zu gestalten, vor allem nötig sei, mit meinen Schicksalsgenossen in el» gutes Verhältnis zu kommen. Sie hatten mich wegen meines schüchternen, weinerlichen Wesens für ein Muttersöhnchen gehalten und machten sich den Spaß, mich in immer neue Angst hineinzuschenchen und mir jeglichen Tort anzutun. Daß ich ihnen mit meinen Tränen nicht gefallen konnte, war uicht weiter zum Verwundern, aber auch meinen Wärtern wurde ich dadurch nicht lieber; sie schienen vielmehr ein Gefallen gerade an den leichtsinnigsten meiner Genossen zu haben, weil ihnen diese keine Umstände machten, sondern sich mit aller Ruhe in ihr Schicksal fanden. Nach wenig Tagen ließ ich denn auch meine Tränen versiegen, und nachdem ich eine Weile zugehört hatte, fing ich an, von mir selber zu erzählen, und da ich vor den beiden Söhnen meines alten Meisters Schöne, die zugleich mit mir ihre Strafe verbüßten, doch nicht nach Belieben auf¬ schneiden konnte, so nahm ich mir mein Leipziger Abenteuer vor und spann daraus eine Geschichte, in der ich nicht mehr das arme geschorne Lamm war, sondern ein entschloßnes Kerlchen, das sich sehen lassen konnte. Und als ich mir erst ein Phantasiestückchen mit dem gewünschten Erfolg geleistet hatte, bekam ich Geschmack an den Aufschneidereien und belog und betrog meine Genossen auf das unverschämteste, wofür ich freilich von ihnen mit gleicher Münze bezahlt wurde. Als die vier Wochen herum waren, stand ich im Leben da als ein Mensch, der seinen Platz unter den anständigen Leuten eingebüßt hatte, dafür aber von einer Anzahl kleiner verwegner Burschen der Freundschaft und Achtung gewürdigt wurde. Ich war im Gefängnis gewesen und hatte gesehen, daß man, wenn man sich in die Umstände zu schicken wisse, auch da leben und Ehre gewinnen könne. 7 ' Als ich aus demi Tore trat, stand mein Vater vor mir. Er hatte Tränen im Ange, und wie er denn überhaupt ein sehr einsichtiger und verständiger Mann war, überschüttete er mich jetzt nicht mit Vorwürfen, sondern war freundlich und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/138>, abgerufen am 05.05.2024.