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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Neue Sprachdnmmheiten. 2. Zugsverspätung.

Über gewisse Eisenbahn¬
unfälle des verfloßnen Sommers erschienen in der Tngespresse, insbesondre in der
sächsischen, wiederholt Aufsätze, die dazu dienen sollten, das Publikum aufzuklären
und zu beruhigen, und die offenbar aus amtlicher Feder stammten und in höheren
Auftrage geschrieben waren. Dabei ist eine neue Sprachdummheit "in die Erscheinung
getreten," die in der amtlichen Eisenbahnsprnche bereits eingebürgert zu sein scheint,
nämlich die Wortverbindung Zugsverkehr, Zugskreuzung, Zugsabfertigung
usw. (statt des bisher üblichen Zugverkehr, Zugkreuzung usw.). Also wieder ein
neuer Fall des unglückseligen "Binde-s," dieser Lepra am Leibe unsrer Sprache, der
mit allen Beobachtungen, Warnungen und Heilversuchen uicht beizukommen ist.

Ich will hier nicht von den Fällen reden, wo sich dieses "Binde-s" an
Wörtern weiblichen Geschlechts festgesetzt hat, wo es also schlechterdings nicht als
Genitiv-s aufgefaßt werden kann, sondern ein reiner Schinnrotzer ist; der Kampf,
den Harden in seiner "Zukunft" dagegen kämpft, indem er die ihm eingesandten
Manuskripte in der Druckerei gründlich davon desinfizieren läßt, ist ja sehr "an-
kennungwert," wie Harden schreiben würde, aber völlig "nussichtlos." Ich will
hier mir ein paar neue Beispiele des Binde-s hinter Wörtern männlichen und
sächlichen Geschlechts festnageln.

Bekanntlich haben wir neben Wortverbindungen, in denen das Bestimmungs¬
wort im reinen Stamm erscheint (Landmann), solche, in denen das Bestimmungs¬
wort im Genitiv steht, die also mehr Zusammcnschreibungen als Zusammensetzungen
sind (Landsmann), nud endlich solche, deren Bestimmungswort nur scheinbar im
Genitiv steht, und bei denen das scheinbare Genitiv-s nichts weiter ist als ein Flick¬
laut, eben das sogenannte Binde-s. Welche von diesen drei Verbindungen in jedem
einzelnen Falle im Laufe der Sprachgeschichte bevorzugt worden ist, hat zum Teil
logische, zum Teil ländliche, zum Teil wohl auch rhythmische Ursachen. Ursachen,
nicht Gründe, denn die meisten Menschen werden sich ihrer jn gar nicht bewußt.
Im allgemeinen kann mau sagen, daß die Verbindungen mit dem reinen Stamm
älter sind als die mit dem Genitiv, daß daher, wo jetzt neue Zusammensetzungen
gebildet werden, eine starke Neigung besteht, den Genitiv zu bevorzugen, und eine
noch stärkere Neigung, ein Sinn- und zweckloses Binde-s einzuschmuggeln. Während
man z. B. bis vor kurzem noch von Kriegführung, Gesangunterricht sprach,
wird jetzt immer häufiger Kriegsführung, Gesangsunterricht geschrieben.
Neulich kam mir sogar eine Gesteinstnnde in die Hände! Jn dieselbe Reihe
würde die Zugsabfertigung und die Zugsverspcitnng gehören. Nun aber
vollends der Zugsverkehr, die Zugsverbindung und die Zngskrenzung!
Zum Verbinden und zum Kreuzen gehören doch zwei Züge, und beim Verkehr
denkt man an eine ganze Menge von Zügen. Hier ist das -s nichts als ein gedankenlos
eiugeschobner Flicklaut, derselbe nichtsnutzige Flicklaut, der neuerdings auch die
alten, richtigen Bildungen Namenverzeichnis, Offizierkasino, Denkmalwut
zu Namensverzeichnis, Offizierskasino (!), Denkmalswut verunstaltet. Diese
Bildungen haben etwas unsäglich Ordinäres. Die solche Zusammensetzungen bilden,
können sich freilich auf das Ortsverzeichnis und den Jünglingsverein be¬
rufen. Muß denn aber dieses überflüssige, sinnlose -s immer weiter verbreitet
werden, statt es zu beschränken? Eine hohe "Generaldirektion" würde sich
sehr verdient machen, wenn sie ihre Assessoren und Referendare anwiese, die
Zugsverbindnngen und Zugskreuzungen wieder aus ihren Schriftstücken
wegzulassen, ehe das böse Beispiel ansteckt. Und auch die Herren Offiziere sollten
sich bei den Zeitungen eine Bildung wie Offizierskasino verbitten. Unsre
Sprache ist ohnehin überreich an S-Lauten; dem Ausländer fällt das unausge-
setzte Gezisch im Deutschen unangenehm auf, wir sollten das nicht unnötigerweise
vermehren. Es vergeht aber fast kein Tag, wo man nicht an einer bisher noch ver¬
schont gebliebner Stelle durch ein Flink-s überrascht würde. Selbst das neumodische
einwandfrei wird schon, offenbar um es noch neumodischer zu machen, zu ein-

waudsfrei verschönert!




Grenzboten IV 1903 18
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Neue Sprachdnmmheiten. 2. Zugsverspätung.

Über gewisse Eisenbahn¬
unfälle des verfloßnen Sommers erschienen in der Tngespresse, insbesondre in der
sächsischen, wiederholt Aufsätze, die dazu dienen sollten, das Publikum aufzuklären
und zu beruhigen, und die offenbar aus amtlicher Feder stammten und in höheren
Auftrage geschrieben waren. Dabei ist eine neue Sprachdummheit „in die Erscheinung
getreten," die in der amtlichen Eisenbahnsprnche bereits eingebürgert zu sein scheint,
nämlich die Wortverbindung Zugsverkehr, Zugskreuzung, Zugsabfertigung
usw. (statt des bisher üblichen Zugverkehr, Zugkreuzung usw.). Also wieder ein
neuer Fall des unglückseligen „Binde-s," dieser Lepra am Leibe unsrer Sprache, der
mit allen Beobachtungen, Warnungen und Heilversuchen uicht beizukommen ist.

Ich will hier nicht von den Fällen reden, wo sich dieses „Binde-s" an
Wörtern weiblichen Geschlechts festgesetzt hat, wo es also schlechterdings nicht als
Genitiv-s aufgefaßt werden kann, sondern ein reiner Schinnrotzer ist; der Kampf,
den Harden in seiner „Zukunft" dagegen kämpft, indem er die ihm eingesandten
Manuskripte in der Druckerei gründlich davon desinfizieren läßt, ist ja sehr „an-
kennungwert," wie Harden schreiben würde, aber völlig „nussichtlos." Ich will
hier mir ein paar neue Beispiele des Binde-s hinter Wörtern männlichen und
sächlichen Geschlechts festnageln.

Bekanntlich haben wir neben Wortverbindungen, in denen das Bestimmungs¬
wort im reinen Stamm erscheint (Landmann), solche, in denen das Bestimmungs¬
wort im Genitiv steht, die also mehr Zusammcnschreibungen als Zusammensetzungen
sind (Landsmann), nud endlich solche, deren Bestimmungswort nur scheinbar im
Genitiv steht, und bei denen das scheinbare Genitiv-s nichts weiter ist als ein Flick¬
laut, eben das sogenannte Binde-s. Welche von diesen drei Verbindungen in jedem
einzelnen Falle im Laufe der Sprachgeschichte bevorzugt worden ist, hat zum Teil
logische, zum Teil ländliche, zum Teil wohl auch rhythmische Ursachen. Ursachen,
nicht Gründe, denn die meisten Menschen werden sich ihrer jn gar nicht bewußt.
Im allgemeinen kann mau sagen, daß die Verbindungen mit dem reinen Stamm
älter sind als die mit dem Genitiv, daß daher, wo jetzt neue Zusammensetzungen
gebildet werden, eine starke Neigung besteht, den Genitiv zu bevorzugen, und eine
noch stärkere Neigung, ein Sinn- und zweckloses Binde-s einzuschmuggeln. Während
man z. B. bis vor kurzem noch von Kriegführung, Gesangunterricht sprach,
wird jetzt immer häufiger Kriegsführung, Gesangsunterricht geschrieben.
Neulich kam mir sogar eine Gesteinstnnde in die Hände! Jn dieselbe Reihe
würde die Zugsabfertigung und die Zugsverspcitnng gehören. Nun aber
vollends der Zugsverkehr, die Zugsverbindung und die Zngskrenzung!
Zum Verbinden und zum Kreuzen gehören doch zwei Züge, und beim Verkehr
denkt man an eine ganze Menge von Zügen. Hier ist das -s nichts als ein gedankenlos
eiugeschobner Flicklaut, derselbe nichtsnutzige Flicklaut, der neuerdings auch die
alten, richtigen Bildungen Namenverzeichnis, Offizierkasino, Denkmalwut
zu Namensverzeichnis, Offizierskasino (!), Denkmalswut verunstaltet. Diese
Bildungen haben etwas unsäglich Ordinäres. Die solche Zusammensetzungen bilden,
können sich freilich auf das Ortsverzeichnis und den Jünglingsverein be¬
rufen. Muß denn aber dieses überflüssige, sinnlose -s immer weiter verbreitet
werden, statt es zu beschränken? Eine hohe „Generaldirektion" würde sich
sehr verdient machen, wenn sie ihre Assessoren und Referendare anwiese, die
Zugsverbindnngen und Zugskreuzungen wieder aus ihren Schriftstücken
wegzulassen, ehe das böse Beispiel ansteckt. Und auch die Herren Offiziere sollten
sich bei den Zeitungen eine Bildung wie Offizierskasino verbitten. Unsre
Sprache ist ohnehin überreich an S-Lauten; dem Ausländer fällt das unausge-
setzte Gezisch im Deutschen unangenehm auf, wir sollten das nicht unnötigerweise
vermehren. Es vergeht aber fast kein Tag, wo man nicht an einer bisher noch ver¬
schont gebliebner Stelle durch ein Flink-s überrascht würde. Selbst das neumodische
einwandfrei wird schon, offenbar um es noch neumodischer zu machen, zu ein-

waudsfrei verschönert!




Grenzboten IV 1903 18
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[0143] Maßgebliches und Unmaßgebliches Neue Sprachdnmmheiten. 2. Zugsverspätung. Über gewisse Eisenbahn¬ unfälle des verfloßnen Sommers erschienen in der Tngespresse, insbesondre in der sächsischen, wiederholt Aufsätze, die dazu dienen sollten, das Publikum aufzuklären und zu beruhigen, und die offenbar aus amtlicher Feder stammten und in höheren Auftrage geschrieben waren. Dabei ist eine neue Sprachdummheit „in die Erscheinung getreten," die in der amtlichen Eisenbahnsprnche bereits eingebürgert zu sein scheint, nämlich die Wortverbindung Zugsverkehr, Zugskreuzung, Zugsabfertigung usw. (statt des bisher üblichen Zugverkehr, Zugkreuzung usw.). Also wieder ein neuer Fall des unglückseligen „Binde-s," dieser Lepra am Leibe unsrer Sprache, der mit allen Beobachtungen, Warnungen und Heilversuchen uicht beizukommen ist. Ich will hier nicht von den Fällen reden, wo sich dieses „Binde-s" an Wörtern weiblichen Geschlechts festgesetzt hat, wo es also schlechterdings nicht als Genitiv-s aufgefaßt werden kann, sondern ein reiner Schinnrotzer ist; der Kampf, den Harden in seiner „Zukunft" dagegen kämpft, indem er die ihm eingesandten Manuskripte in der Druckerei gründlich davon desinfizieren läßt, ist ja sehr „an- kennungwert," wie Harden schreiben würde, aber völlig „nussichtlos." Ich will hier mir ein paar neue Beispiele des Binde-s hinter Wörtern männlichen und sächlichen Geschlechts festnageln. Bekanntlich haben wir neben Wortverbindungen, in denen das Bestimmungs¬ wort im reinen Stamm erscheint (Landmann), solche, in denen das Bestimmungs¬ wort im Genitiv steht, die also mehr Zusammcnschreibungen als Zusammensetzungen sind (Landsmann), nud endlich solche, deren Bestimmungswort nur scheinbar im Genitiv steht, und bei denen das scheinbare Genitiv-s nichts weiter ist als ein Flick¬ laut, eben das sogenannte Binde-s. Welche von diesen drei Verbindungen in jedem einzelnen Falle im Laufe der Sprachgeschichte bevorzugt worden ist, hat zum Teil logische, zum Teil ländliche, zum Teil wohl auch rhythmische Ursachen. Ursachen, nicht Gründe, denn die meisten Menschen werden sich ihrer jn gar nicht bewußt. Im allgemeinen kann mau sagen, daß die Verbindungen mit dem reinen Stamm älter sind als die mit dem Genitiv, daß daher, wo jetzt neue Zusammensetzungen gebildet werden, eine starke Neigung besteht, den Genitiv zu bevorzugen, und eine noch stärkere Neigung, ein Sinn- und zweckloses Binde-s einzuschmuggeln. Während man z. B. bis vor kurzem noch von Kriegführung, Gesangunterricht sprach, wird jetzt immer häufiger Kriegsführung, Gesangsunterricht geschrieben. Neulich kam mir sogar eine Gesteinstnnde in die Hände! Jn dieselbe Reihe würde die Zugsabfertigung und die Zugsverspcitnng gehören. Nun aber vollends der Zugsverkehr, die Zugsverbindung und die Zngskrenzung! Zum Verbinden und zum Kreuzen gehören doch zwei Züge, und beim Verkehr denkt man an eine ganze Menge von Zügen. Hier ist das -s nichts als ein gedankenlos eiugeschobner Flicklaut, derselbe nichtsnutzige Flicklaut, der neuerdings auch die alten, richtigen Bildungen Namenverzeichnis, Offizierkasino, Denkmalwut zu Namensverzeichnis, Offizierskasino (!), Denkmalswut verunstaltet. Diese Bildungen haben etwas unsäglich Ordinäres. Die solche Zusammensetzungen bilden, können sich freilich auf das Ortsverzeichnis und den Jünglingsverein be¬ rufen. Muß denn aber dieses überflüssige, sinnlose -s immer weiter verbreitet werden, statt es zu beschränken? Eine hohe „Generaldirektion" würde sich sehr verdient machen, wenn sie ihre Assessoren und Referendare anwiese, die Zugsverbindnngen und Zugskreuzungen wieder aus ihren Schriftstücken wegzulassen, ehe das böse Beispiel ansteckt. Und auch die Herren Offiziere sollten sich bei den Zeitungen eine Bildung wie Offizierskasino verbitten. Unsre Sprache ist ohnehin überreich an S-Lauten; dem Ausländer fällt das unausge- setzte Gezisch im Deutschen unangenehm auf, wir sollten das nicht unnötigerweise vermehren. Es vergeht aber fast kein Tag, wo man nicht an einer bisher noch ver¬ schont gebliebner Stelle durch ein Flink-s überrascht würde. Selbst das neumodische einwandfrei wird schon, offenbar um es noch neumodischer zu machen, zu ein- waudsfrei verschönert! Grenzboten IV 1903 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/143>, abgerufen am 05.05.2024.