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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Im Lande der tausend Seen

ihnen. Vielleicht ist Sutcliffes spezifisch männliche Kunst eines tiefen Einblicks
in den Charakter der Frau nicht fähig, vielleicht wird ihm das erst in spätern
Jahren gelingen.

Denn obwohl der Verfasser schon eine stattliche Anzahl von Werken ge¬
schaffen hat, verraten seine Erzählungen noch immer ein gewisses jugendliches
Ungestüm, eine Überfülle von Kraft, die von der weisen Erkenntnis des reifen
Künstlers noch nicht völlig gebändigt erscheint. Doch wir nehmen die aus
solchem Übersprudeln der schöpferischen Phantasie herrührenden kleinen Regel¬
losigkeiten willig in den Kauf und freuen uns der frischen Schönheit des
Gebotnen. Wenn Sutcliffes Entwicklung fortschreitet wie bisher, wird das
Landvolk von Jorkshire einen klassischen Interpreten gefunden haben, zur
Freude aller derer, die sich offne Sinne und ein warmes Herz für die Heimat¬
B. prilipx kunst bewahren.




Im Lande der tausend Seen
Benvenuto Sartorius Erinnerungen von
^. ZViborg und Umgebung. Der part von Monrepos

>errijoki! -- Der Zug hat den kleinen, wasserarmen Bach Syster-
bük überschritten, der die Grenze zwischen Rußland und Finnland
bildet, und rollt laugsam in die langgestreckte hölzerne Bahnhof¬
halle ein, begrüßt von den zitternden Klängen halbvergessener
I Melodien, die der blinde Harfenist, der seit Menschengedenken
jeden einfahrenden Zug mit seiner melancholischen Musik empfängt, seinem
altersschwachen Instrument entlockt. Eine elegante, buntfarbige Menge wogt
auf dem Perron hin und her, teils weil sie neu ankommende Fremde ans der
Residenz erwartet, teils weil sie, nur dem Trieb der Neugierde folgend, Passanten
und Sommergäste einer kritischen Musterung unterziehn will. Terrijoki ist die
beliebteste Sommerfrische in der nächsten Umgebung der nordischen Metropole.
Es hat einen herrlichen Strand, der sich bis zu dem erst kürzlich in unmittel¬
barer Nähe Petersburgs gegründeten fashionabeln Kurort Sestrorjezk hinzieht,
einen ausgedehnten Park und daran anschließenden Waldbestand, der sich
meilenweit in das hüglige Land erstreckt. Sein Hciuptvvrzug, der Grund seiner
ungeheuern Frequenz -- über 30000 Menschen verbringen alljährlich ihre
Sommerferien in Terrijoki --, ist die bequeme Verbindung mit Petersburg,
das mit der Bahn in ein und einer viertel Stunde zu erreichen ist, wodurch es
auch dem durch seinen Beruf an die Stadt gefesselten Kaufmann oder Beamten
möglich wird, sich allabendlich mit der in der Sommerfrische weilenden Familie
zu vereinigen und die Sonntage und Feiertage wenigstens in guter Luft von der
anstrengenden Bureau- oder Kontorarbeit aufzuatmen. Seit einigen Jahren
macht allerdings der noch diesseits der russischen Grenzpfühle am Meeresstrand
liegende finnische Villenort Kuokala Terrijoki starke Konkurrenz. Der Strand
sowie alle Lebensbedingungen sind ähnlich, ohne den luxuriösen Komfort undM
-M?


Im Lande der tausend Seen

ihnen. Vielleicht ist Sutcliffes spezifisch männliche Kunst eines tiefen Einblicks
in den Charakter der Frau nicht fähig, vielleicht wird ihm das erst in spätern
Jahren gelingen.

Denn obwohl der Verfasser schon eine stattliche Anzahl von Werken ge¬
schaffen hat, verraten seine Erzählungen noch immer ein gewisses jugendliches
Ungestüm, eine Überfülle von Kraft, die von der weisen Erkenntnis des reifen
Künstlers noch nicht völlig gebändigt erscheint. Doch wir nehmen die aus
solchem Übersprudeln der schöpferischen Phantasie herrührenden kleinen Regel¬
losigkeiten willig in den Kauf und freuen uns der frischen Schönheit des
Gebotnen. Wenn Sutcliffes Entwicklung fortschreitet wie bisher, wird das
Landvolk von Jorkshire einen klassischen Interpreten gefunden haben, zur
Freude aller derer, die sich offne Sinne und ein warmes Herz für die Heimat¬
B. prilipx kunst bewahren.




Im Lande der tausend Seen
Benvenuto Sartorius Erinnerungen von
^. ZViborg und Umgebung. Der part von Monrepos

>errijoki! — Der Zug hat den kleinen, wasserarmen Bach Syster-
bük überschritten, der die Grenze zwischen Rußland und Finnland
bildet, und rollt laugsam in die langgestreckte hölzerne Bahnhof¬
halle ein, begrüßt von den zitternden Klängen halbvergessener
I Melodien, die der blinde Harfenist, der seit Menschengedenken
jeden einfahrenden Zug mit seiner melancholischen Musik empfängt, seinem
altersschwachen Instrument entlockt. Eine elegante, buntfarbige Menge wogt
auf dem Perron hin und her, teils weil sie neu ankommende Fremde ans der
Residenz erwartet, teils weil sie, nur dem Trieb der Neugierde folgend, Passanten
und Sommergäste einer kritischen Musterung unterziehn will. Terrijoki ist die
beliebteste Sommerfrische in der nächsten Umgebung der nordischen Metropole.
Es hat einen herrlichen Strand, der sich bis zu dem erst kürzlich in unmittel¬
barer Nähe Petersburgs gegründeten fashionabeln Kurort Sestrorjezk hinzieht,
einen ausgedehnten Park und daran anschließenden Waldbestand, der sich
meilenweit in das hüglige Land erstreckt. Sein Hciuptvvrzug, der Grund seiner
ungeheuern Frequenz — über 30000 Menschen verbringen alljährlich ihre
Sommerferien in Terrijoki —, ist die bequeme Verbindung mit Petersburg,
das mit der Bahn in ein und einer viertel Stunde zu erreichen ist, wodurch es
auch dem durch seinen Beruf an die Stadt gefesselten Kaufmann oder Beamten
möglich wird, sich allabendlich mit der in der Sommerfrische weilenden Familie
zu vereinigen und die Sonntage und Feiertage wenigstens in guter Luft von der
anstrengenden Bureau- oder Kontorarbeit aufzuatmen. Seit einigen Jahren
macht allerdings der noch diesseits der russischen Grenzpfühle am Meeresstrand
liegende finnische Villenort Kuokala Terrijoki starke Konkurrenz. Der Strand
sowie alle Lebensbedingungen sind ähnlich, ohne den luxuriösen Komfort undM
-M?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/106>, abgerufen am 28.04.2024.