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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Im Lande der tausend Seen

das großstädtische Leben, wodurch sich Terrijoki von allen an der finnischen
Bahn liegenden Sommerfrischen (und deren sind auf der Strecke Petersburg-
Wiborg nicht wenige) hervortut.

Die Gepäckrevision ist auf der finnischen Seite nicht allzu streng, und
nach kurzem Aufenthalt setzt sich der auf die Hälfte reduzierte Zug wieder in
Bewegung. Der Eintritt in das vielbesungne ..Land der tausend Seen" ist
wenig reizvoll. Ein armseliges Land, mit kurzem Gras bewachsne Wiesen¬
strecken, besät mit erratischen Steinblöcken, elende Wälder, denen man den
Kampf ums Dasein, den sie mit dem steinigen Erdreich und den Schneestürmen
des langen nordischen Winters führen, ansieht, streckenweise durch die fast all¬
jährlich längs der Bahnlinie wütenden Waldbrände niedergebrannt oder ange¬
lobte, meilenweit keine menschliche Behausung, kein bebautes Feld, nur in der
Nähe der Stationen ein paar freundliche Holzhäuser mit offnen Veranden,
Wohnungen der Bahnbeamten und "Datschen"*) für Sommergäste. An jeder
Station steht eine Reihe der landesüblichen kleinen zweirädrigen Karren, bereit
den Reisenden nach den landeinwärts liegenden entfernter" Datschenorten zu
bringen.

Sobald wir uns Wiborg nähern, wird die Gegend anmutiger, die Wälder
werden dichter und sind mehr mit Laubholz, hauptsächlich Birken, untermischt.
Das Terrain ist hüglig und gewährt hübsche Einblicke in die von schimmernden
Wasseradern durchzognen, mit Buschwerk bestandnen Wiesengelände und auf
den in der Ferne aufblitzenden Wiborger See. Wiborg, die zweitgrößte Stadt
Finnlands und die Hauptstadt der alten finnischen Ostmark Karelen, ist schon
im Jahre 1710 unter russische Oberherrschaft gekommen, also beinahe hundert
Jahre früher als das übrige, unter schwedischer Herrschaft stehende finnische
Land. Daher kommt es wohl, daß das russische Element unter der Bevöl¬
kerung hier stärker vertreten ist als in andern Teilen des Landes. Karelen
hat eine Anzahl russischer Niederlassungen, und Wiborg ist der Sitz eines
griechisch-orthodoxen Erzbischofs. statistisch nachgewiesen ist, daß die Volks¬
schulbildung, die im ganzen Lande auf einer hohen Stufe steht, im Gouver¬
nement Wiborg die ungünstigsten Verhältnisse aufweist, was ohne Zweifel mit
der Mischung der Bevölkerung zusammenhängt. Der nach Wiborg kommende
Fremde, der der beiden Landessprachen: schwedisch und Finnisch, unkundig ist,
tut übrigens besser, sein Heil mit der deutschen Sprache zu versuchen, als mit
der besonders in neuester Zeit mißliebig angesehenen Neichssprache. Der jahr¬
hundertealte Handelsverkehr mit Deutschland, der besonders zur Zeit der
Hans" blühte, hat dazu beigetragen, die deutsche Sprache in Wiborg als Ge-
I> 7 'I> ""^ ^'^lMsprache einzuführen, sodaß man sicher voraussetzen kann,
daß jeder Gebildete sie vollkommen beherrscht. Wiborg ist durch seine Lage
am Ausgangspunkt des das ganze südöstliche Finnland beherrschenden Salme-
Kcmalnetzes von unschätzbarer Wichtigkeit für den Exporthandel des Landes
der fast ausschließlich in Holz besteht, das in enormen Quantitäten aus dem
innern hergebracht und aus dem Seehafen Trcmgsund ins Ausland ver-
schifft wird.



") Datsche russische Bezeichnung einer Sommerwohnung.
Im Lande der tausend Seen

das großstädtische Leben, wodurch sich Terrijoki von allen an der finnischen
Bahn liegenden Sommerfrischen (und deren sind auf der Strecke Petersburg-
Wiborg nicht wenige) hervortut.

Die Gepäckrevision ist auf der finnischen Seite nicht allzu streng, und
nach kurzem Aufenthalt setzt sich der auf die Hälfte reduzierte Zug wieder in
Bewegung. Der Eintritt in das vielbesungne ..Land der tausend Seen" ist
wenig reizvoll. Ein armseliges Land, mit kurzem Gras bewachsne Wiesen¬
strecken, besät mit erratischen Steinblöcken, elende Wälder, denen man den
Kampf ums Dasein, den sie mit dem steinigen Erdreich und den Schneestürmen
des langen nordischen Winters führen, ansieht, streckenweise durch die fast all¬
jährlich längs der Bahnlinie wütenden Waldbrände niedergebrannt oder ange¬
lobte, meilenweit keine menschliche Behausung, kein bebautes Feld, nur in der
Nähe der Stationen ein paar freundliche Holzhäuser mit offnen Veranden,
Wohnungen der Bahnbeamten und „Datschen"*) für Sommergäste. An jeder
Station steht eine Reihe der landesüblichen kleinen zweirädrigen Karren, bereit
den Reisenden nach den landeinwärts liegenden entfernter» Datschenorten zu
bringen.

Sobald wir uns Wiborg nähern, wird die Gegend anmutiger, die Wälder
werden dichter und sind mehr mit Laubholz, hauptsächlich Birken, untermischt.
Das Terrain ist hüglig und gewährt hübsche Einblicke in die von schimmernden
Wasseradern durchzognen, mit Buschwerk bestandnen Wiesengelände und auf
den in der Ferne aufblitzenden Wiborger See. Wiborg, die zweitgrößte Stadt
Finnlands und die Hauptstadt der alten finnischen Ostmark Karelen, ist schon
im Jahre 1710 unter russische Oberherrschaft gekommen, also beinahe hundert
Jahre früher als das übrige, unter schwedischer Herrschaft stehende finnische
Land. Daher kommt es wohl, daß das russische Element unter der Bevöl¬
kerung hier stärker vertreten ist als in andern Teilen des Landes. Karelen
hat eine Anzahl russischer Niederlassungen, und Wiborg ist der Sitz eines
griechisch-orthodoxen Erzbischofs. statistisch nachgewiesen ist, daß die Volks¬
schulbildung, die im ganzen Lande auf einer hohen Stufe steht, im Gouver¬
nement Wiborg die ungünstigsten Verhältnisse aufweist, was ohne Zweifel mit
der Mischung der Bevölkerung zusammenhängt. Der nach Wiborg kommende
Fremde, der der beiden Landessprachen: schwedisch und Finnisch, unkundig ist,
tut übrigens besser, sein Heil mit der deutschen Sprache zu versuchen, als mit
der besonders in neuester Zeit mißliebig angesehenen Neichssprache. Der jahr¬
hundertealte Handelsverkehr mit Deutschland, der besonders zur Zeit der
Hans« blühte, hat dazu beigetragen, die deutsche Sprache in Wiborg als Ge-
I> 7 'I> ""^ ^'^lMsprache einzuführen, sodaß man sicher voraussetzen kann,
daß jeder Gebildete sie vollkommen beherrscht. Wiborg ist durch seine Lage
am Ausgangspunkt des das ganze südöstliche Finnland beherrschenden Salme-
Kcmalnetzes von unschätzbarer Wichtigkeit für den Exporthandel des Landes
der fast ausschließlich in Holz besteht, das in enormen Quantitäten aus dem
innern hergebracht und aus dem Seehafen Trcmgsund ins Ausland ver-
schifft wird.



") Datsche russische Bezeichnung einer Sommerwohnung.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/107>, abgerufen am 13.05.2024.