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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Reichsverdrossenheit und Bismarcklegende

geprägt feudal-klerikale Charakter der ersten Kammer durch Einfügung bürger¬
licher Elemente beseitigt werden, wobei man vornehmlich an Vertreter der
Hochschulen, der größern Städte, eventuell an Herübernahme der Ritter und
der Prälaten aus der zweiten Kammer denkt. Die Negierung, die am 8. Juni
unerhört herausgefordert worden ist, wird nicht umhin können, in dieser Richtung
bald eine Vorlage einzubringen. Zentrum und katholische Standesherren werden
sich ihr nach Kräften entgegenstemmen; wenn sie den Bogen aber wieder so
straff spannen wie am 8. Juni, so mag es wohl geschehn, daß er bricht.




Reichsverdrossenheit und Bismarcklegende
(Schluß)

enden alle in Betracht kommenden Nachbarstaaten die allgemeine
Wehrpflicht durchgeführt haben, ist für Deutschland die Möglichkeit
geschwunden, eine Machtentwicklung zu entfalten, wie dies in
den Jahren 1866 und 1870/71 der Fall war. Ziehn wir als
Beispiel Frankreich heran, das doch in seiner Bevölkerungszahl
auffällig zurückbleibt. Es würde wohl wieder geschlagen, aber niemals wieder
so weit niedergerungen werden, daß es bezahlen müßte, was Deutschland ver¬
langt. Ganz abgesehen davon, wie sich die andern Mächte dabei verhalten
würden, liegt klar zutage, daß alles das, was seinerzeit als Gambettasche
Neuformationen auftrat, und von denen allerdings ein Bataillon eine preußische
Landwehrkvmpagnie nicht zu erschüttern vermochte, in einen: nächsten Kriege
aus geübten Soldaten bestehn würde, die gänzlich niederzuwerfen auch der
deutschen Übermacht nicht so leicht werden dürfte. Im günstigsten Falle würde
Deutschland immer noch einen Teil seiner Kriegskosten selbst tragen müssen,
und was das bedeuten will, wenn Millionen in Marsch gesetzt werden, braucht
gar nicht weiter ausgeführt zu werden. Die Armeen der allgemeinen Wehr¬
pflicht tragen durchaus einen defensiven Charakter, was nicht ausschließt, daß
sie bei Gelegenheit zu dem Zweck der Verteidigung recht scharf angriffs¬
weise vorgehn; sie sichern das eigne Land, auch den etwas schwächern Staat
vor der Vernichtung, aber zu Eroberungszwccken reichen sie auch für den
mächtigsten nicht aus. In dieser Lage sind die Staaten des europäischen Fest¬
landes seit ungefähr zwei Jahrzehnten, und sie ist für ihre Politik bestimmend.
Es ist dadurch eine gewisse Gleichgewichtslage entstanden, die noch verstärkt
worden ist durch die beideu großen Bündnisse, den Dreibund und den Zwei¬
bund, die beide zu dem Zwecke gegründet worden sind, die Unterdrückung und
die Vernichtung eines ihrer Glieder durch ein Bündnis mehrerer Staaten zu
verhüten. Daß auch dieser Zustand dein weiten Blick des Altreichskanzlers, der
ja auch vorher jeden Keim einer Koalition gegen Deutschland zu ersticken ver¬
standen hatte, seinen Ursprung verdankt, ist richtig, aber auf dieser Grundlage
haben seine Nachfolger weiter zu banen, und sie tun das auch, wie dies jeder


Reichsverdrossenheit und Bismarcklegende

geprägt feudal-klerikale Charakter der ersten Kammer durch Einfügung bürger¬
licher Elemente beseitigt werden, wobei man vornehmlich an Vertreter der
Hochschulen, der größern Städte, eventuell an Herübernahme der Ritter und
der Prälaten aus der zweiten Kammer denkt. Die Negierung, die am 8. Juni
unerhört herausgefordert worden ist, wird nicht umhin können, in dieser Richtung
bald eine Vorlage einzubringen. Zentrum und katholische Standesherren werden
sich ihr nach Kräften entgegenstemmen; wenn sie den Bogen aber wieder so
straff spannen wie am 8. Juni, so mag es wohl geschehn, daß er bricht.




Reichsverdrossenheit und Bismarcklegende
(Schluß)

enden alle in Betracht kommenden Nachbarstaaten die allgemeine
Wehrpflicht durchgeführt haben, ist für Deutschland die Möglichkeit
geschwunden, eine Machtentwicklung zu entfalten, wie dies in
den Jahren 1866 und 1870/71 der Fall war. Ziehn wir als
Beispiel Frankreich heran, das doch in seiner Bevölkerungszahl
auffällig zurückbleibt. Es würde wohl wieder geschlagen, aber niemals wieder
so weit niedergerungen werden, daß es bezahlen müßte, was Deutschland ver¬
langt. Ganz abgesehen davon, wie sich die andern Mächte dabei verhalten
würden, liegt klar zutage, daß alles das, was seinerzeit als Gambettasche
Neuformationen auftrat, und von denen allerdings ein Bataillon eine preußische
Landwehrkvmpagnie nicht zu erschüttern vermochte, in einen: nächsten Kriege
aus geübten Soldaten bestehn würde, die gänzlich niederzuwerfen auch der
deutschen Übermacht nicht so leicht werden dürfte. Im günstigsten Falle würde
Deutschland immer noch einen Teil seiner Kriegskosten selbst tragen müssen,
und was das bedeuten will, wenn Millionen in Marsch gesetzt werden, braucht
gar nicht weiter ausgeführt zu werden. Die Armeen der allgemeinen Wehr¬
pflicht tragen durchaus einen defensiven Charakter, was nicht ausschließt, daß
sie bei Gelegenheit zu dem Zweck der Verteidigung recht scharf angriffs¬
weise vorgehn; sie sichern das eigne Land, auch den etwas schwächern Staat
vor der Vernichtung, aber zu Eroberungszwccken reichen sie auch für den
mächtigsten nicht aus. In dieser Lage sind die Staaten des europäischen Fest¬
landes seit ungefähr zwei Jahrzehnten, und sie ist für ihre Politik bestimmend.
Es ist dadurch eine gewisse Gleichgewichtslage entstanden, die noch verstärkt
worden ist durch die beideu großen Bündnisse, den Dreibund und den Zwei¬
bund, die beide zu dem Zwecke gegründet worden sind, die Unterdrückung und
die Vernichtung eines ihrer Glieder durch ein Bündnis mehrerer Staaten zu
verhüten. Daß auch dieser Zustand dein weiten Blick des Altreichskanzlers, der
ja auch vorher jeden Keim einer Koalition gegen Deutschland zu ersticken ver¬
standen hatte, seinen Ursprung verdankt, ist richtig, aber auf dieser Grundlage
haben seine Nachfolger weiter zu banen, und sie tun das auch, wie dies jeder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/136>, abgerufen am 28.04.2024.