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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Die Ramorra Neapels

tauschten sich in Beziehung darauf, sie bildeten sich unrein, Andacht zu haben;
da wir keine Vorstellung von Gott hätten, so könnten wir auch kein persön¬
liches Verhältnis zu ihm gewinnen und keinen Verkehr mit ihm Pflegen. In
Beziehung auf den sentimentalen Verkehr mancher gewöhnlicher Christen mit
Gott im Gebete wird Hume Recht haben; die Liebesbeteurungen, die sie an Gott
richten, sind eingelernte Gebetbnchphrasen. Aber vor dem Weltschöpfer, Welt-
regierer und Erlöser Ehrfurcht hegen, seine Macht und sein Walten bewundern
und sich mit Bewußtsein seinem Willen unterwerfen, in die von ihm gesetzte
Weltordnung einfügen, das kann auch ein ganz nüchterner, verständiger Mensch, und
soweit kann jeder ein persönliches Verhältnis zu dem gewinnen, den wir freilich
nicht an sich, sondern nur aus seinen Werken kennen. Was dann die mystischen
Erscheinungen betrifft, so dürfen wir die allermeisten von denen, die in Legenden
erzählt werden, selbstverständlich auch den ganzen modernen Spiritisten- und
Dkkultistenschwindel, teils für Betrug, teils für natürliche Wirkungen krankhafter
Zustände halten, und auf sehr viele wird der zynische Witz passen, mit dem Kant
die Visionen Swedenborgs verspottet hat. Aber wenn wir Männern und
Frauen begegnen wie dem Franz von AM, der Katharina von Siena, dem
Meister Eckhart, dem schwäbischen Pfarrer Blumhardt, die heroische Tugenden
geübt und eine großartige gemeinnützige Tätigkeit entfaltet haben, von denen
manche eine weltgeschichtliche Bedeutung in Anspruch nehmen dürfen, so wäre
es verwegen, wenn wir ihren geheimnisvollen Verkehr mit Gott, von dem sie
sprechen, für Hysterie, Halluzination oder gar für Lüge erklären wollten. Solchen
Erscheinungen gegenüber fragen wir mit dem Meister Eckhart: Kennst du denn,
o Mensch, alle Kräfte, die Gott in die Menschennatur gelegt hat? Wer ver¬
mag es, auch nur einen musikalischen Wunderknaben aus dem Keimplasma
seiner Eltern zu erklären? In außergewöhnlichen Menschen entfaltet eben Gott
eine außergewöhnliche Wirksamkeit. Warum sollen wir nicht annehmen, daß er
einzelnen Auserwählten die Fähigkeit verleihe, auf Augenblicke hinter den Vor¬
zug zu schauen, der uns andern, den gewöhnlichen Menschen, die übersinnliche
Welt zeitlebens verbirgt, damit jene durch die Begeisterung, mit der sie von dem
Erlebten sprechen, in den übrigen Menschen den Glauben an diese übersinnliche
Welt stärkten?




Die Kamorra Neapels
Paul Baumgarten von (Schluß)

äst jeder dieser jungen Verbrecher hat einen Kamorristen, der sich
seiner annimmt, ihn "erzieht," indem er ihn in die verschiednen
Arten des Diebstahls, des Raubes, der Hantierung mit Messer,
Dolch und Revolver usw. nach und nach einweiht. Erscheint
diesem Kamorristen die Erziehung soweit fortgeschritten, daß der
Aoviwotto in die zweite Klasse der niedern Kamorra aufsteigen kann, so wird
wiederum auf Antrag des Ziov^noto eine Versammlung einberufen. In dieser


Die Ramorra Neapels

tauschten sich in Beziehung darauf, sie bildeten sich unrein, Andacht zu haben;
da wir keine Vorstellung von Gott hätten, so könnten wir auch kein persön¬
liches Verhältnis zu ihm gewinnen und keinen Verkehr mit ihm Pflegen. In
Beziehung auf den sentimentalen Verkehr mancher gewöhnlicher Christen mit
Gott im Gebete wird Hume Recht haben; die Liebesbeteurungen, die sie an Gott
richten, sind eingelernte Gebetbnchphrasen. Aber vor dem Weltschöpfer, Welt-
regierer und Erlöser Ehrfurcht hegen, seine Macht und sein Walten bewundern
und sich mit Bewußtsein seinem Willen unterwerfen, in die von ihm gesetzte
Weltordnung einfügen, das kann auch ein ganz nüchterner, verständiger Mensch, und
soweit kann jeder ein persönliches Verhältnis zu dem gewinnen, den wir freilich
nicht an sich, sondern nur aus seinen Werken kennen. Was dann die mystischen
Erscheinungen betrifft, so dürfen wir die allermeisten von denen, die in Legenden
erzählt werden, selbstverständlich auch den ganzen modernen Spiritisten- und
Dkkultistenschwindel, teils für Betrug, teils für natürliche Wirkungen krankhafter
Zustände halten, und auf sehr viele wird der zynische Witz passen, mit dem Kant
die Visionen Swedenborgs verspottet hat. Aber wenn wir Männern und
Frauen begegnen wie dem Franz von AM, der Katharina von Siena, dem
Meister Eckhart, dem schwäbischen Pfarrer Blumhardt, die heroische Tugenden
geübt und eine großartige gemeinnützige Tätigkeit entfaltet haben, von denen
manche eine weltgeschichtliche Bedeutung in Anspruch nehmen dürfen, so wäre
es verwegen, wenn wir ihren geheimnisvollen Verkehr mit Gott, von dem sie
sprechen, für Hysterie, Halluzination oder gar für Lüge erklären wollten. Solchen
Erscheinungen gegenüber fragen wir mit dem Meister Eckhart: Kennst du denn,
o Mensch, alle Kräfte, die Gott in die Menschennatur gelegt hat? Wer ver¬
mag es, auch nur einen musikalischen Wunderknaben aus dem Keimplasma
seiner Eltern zu erklären? In außergewöhnlichen Menschen entfaltet eben Gott
eine außergewöhnliche Wirksamkeit. Warum sollen wir nicht annehmen, daß er
einzelnen Auserwählten die Fähigkeit verleihe, auf Augenblicke hinter den Vor¬
zug zu schauen, der uns andern, den gewöhnlichen Menschen, die übersinnliche
Welt zeitlebens verbirgt, damit jene durch die Begeisterung, mit der sie von dem
Erlebten sprechen, in den übrigen Menschen den Glauben an diese übersinnliche
Welt stärkten?




Die Kamorra Neapels
Paul Baumgarten von (Schluß)

äst jeder dieser jungen Verbrecher hat einen Kamorristen, der sich
seiner annimmt, ihn „erzieht," indem er ihn in die verschiednen
Arten des Diebstahls, des Raubes, der Hantierung mit Messer,
Dolch und Revolver usw. nach und nach einweiht. Erscheint
diesem Kamorristen die Erziehung soweit fortgeschritten, daß der
Aoviwotto in die zweite Klasse der niedern Kamorra aufsteigen kann, so wird
wiederum auf Antrag des Ziov^noto eine Versammlung einberufen. In dieser


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[0645] Die Ramorra Neapels tauschten sich in Beziehung darauf, sie bildeten sich unrein, Andacht zu haben; da wir keine Vorstellung von Gott hätten, so könnten wir auch kein persön¬ liches Verhältnis zu ihm gewinnen und keinen Verkehr mit ihm Pflegen. In Beziehung auf den sentimentalen Verkehr mancher gewöhnlicher Christen mit Gott im Gebete wird Hume Recht haben; die Liebesbeteurungen, die sie an Gott richten, sind eingelernte Gebetbnchphrasen. Aber vor dem Weltschöpfer, Welt- regierer und Erlöser Ehrfurcht hegen, seine Macht und sein Walten bewundern und sich mit Bewußtsein seinem Willen unterwerfen, in die von ihm gesetzte Weltordnung einfügen, das kann auch ein ganz nüchterner, verständiger Mensch, und soweit kann jeder ein persönliches Verhältnis zu dem gewinnen, den wir freilich nicht an sich, sondern nur aus seinen Werken kennen. Was dann die mystischen Erscheinungen betrifft, so dürfen wir die allermeisten von denen, die in Legenden erzählt werden, selbstverständlich auch den ganzen modernen Spiritisten- und Dkkultistenschwindel, teils für Betrug, teils für natürliche Wirkungen krankhafter Zustände halten, und auf sehr viele wird der zynische Witz passen, mit dem Kant die Visionen Swedenborgs verspottet hat. Aber wenn wir Männern und Frauen begegnen wie dem Franz von AM, der Katharina von Siena, dem Meister Eckhart, dem schwäbischen Pfarrer Blumhardt, die heroische Tugenden geübt und eine großartige gemeinnützige Tätigkeit entfaltet haben, von denen manche eine weltgeschichtliche Bedeutung in Anspruch nehmen dürfen, so wäre es verwegen, wenn wir ihren geheimnisvollen Verkehr mit Gott, von dem sie sprechen, für Hysterie, Halluzination oder gar für Lüge erklären wollten. Solchen Erscheinungen gegenüber fragen wir mit dem Meister Eckhart: Kennst du denn, o Mensch, alle Kräfte, die Gott in die Menschennatur gelegt hat? Wer ver¬ mag es, auch nur einen musikalischen Wunderknaben aus dem Keimplasma seiner Eltern zu erklären? In außergewöhnlichen Menschen entfaltet eben Gott eine außergewöhnliche Wirksamkeit. Warum sollen wir nicht annehmen, daß er einzelnen Auserwählten die Fähigkeit verleihe, auf Augenblicke hinter den Vor¬ zug zu schauen, der uns andern, den gewöhnlichen Menschen, die übersinnliche Welt zeitlebens verbirgt, damit jene durch die Begeisterung, mit der sie von dem Erlebten sprechen, in den übrigen Menschen den Glauben an diese übersinnliche Welt stärkten? Die Kamorra Neapels Paul Baumgarten von (Schluß) äst jeder dieser jungen Verbrecher hat einen Kamorristen, der sich seiner annimmt, ihn „erzieht," indem er ihn in die verschiednen Arten des Diebstahls, des Raubes, der Hantierung mit Messer, Dolch und Revolver usw. nach und nach einweiht. Erscheint diesem Kamorristen die Erziehung soweit fortgeschritten, daß der Aoviwotto in die zweite Klasse der niedern Kamorra aufsteigen kann, so wird wiederum auf Antrag des Ziov^noto eine Versammlung einberufen. In dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/645>, abgerufen am 28.04.2024.