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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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die aber männlichen Gestalten gegenüber fast immer versagt; ihre Frauen sind
oft eigentümlich, immer lebenswahr gegeben. Das zeigt ihre erst jetzt ver¬
öffentlichte Jugendarbeit "Gunhild Kersten" (4. Aufl., Stuttgart und Leipzig,
Deutsche Berlagscmstalt, 1904) schon überall. Das Charakterbild der Gunhild
Kersten ist in einem klaren Aufbau aufgeführt vom Beginne bis zum Gipfel,
die Männer, besonders Gnnhilds eigentlicher Gegenspieler, haben etwas roman¬
haftes, lebensunwahres. Das Buch ist eine starke Talentprobe -- aber der
Abstand der spätern Werke von diesem frühen ist nicht eben groß. Über
"Liselotte von Reckling" (Berlin, S. Fischer, 1904) ließe sich genau dasselbe
sagen wie über "Gunhild Kersten." Es fehlt nur das Jugendliche dieser
Arbeit, und darum ist mir "Gunhild Kersten" lieber.

Ich stehe wieder auf dem Leipziger Markte. Und so mache denn ein
Leipziger den Beschluß. Kurt Mariens, der Großstädtische, schließt sich nicht
übel an Frau Reuter an, so seltsam sich seine "Katastrophen" (Berlin, Egon
Fleischel K Comp., 1904) neben Frau Schulze-Smidt oder Weidemann aus¬
nehmen. Es ist ein gut geschriebnes, höchst amüsantes Buch; amüsant ist das
richtigste Wort. Einmal werden "Probleme" angerührt, aber eben nur an¬
gerührt. Sonst bleibt es Unterhaltungslektüre, aber freilich geschmackvolle, in
gutem Deutsch geschriebn":. Und besonders dem gräßlichen Zeug gegenüber,
das uus gemeinhin als "Humoreske" verzapft wird, sind einzelne dieser ge¬
Heinrich Spiero schmackvollen Geschichten erfreulich.




Massaua
Hermann Freericks von in Münster i. to.

on der zinnengekrönten kleinen Feste aus der Zeit der letzten
Kreuzzüge, von Aigues-Wortes, das mit Rip van Winkels ver¬
wunderten Augen in die fremdgewordne Welt zu starren scheint,
kam ich am Nachmittage nach Marseille: aus der Stadt des Todes
und der Vergangenheit in eine Stadt lebendigster Gegenwart.
Zwar ist diese Gründung jonischer Griechen fast zwei Jahrtausende älter als
der Kreuzfahrerhafen, aber sie erfreut sich wie die griechischen Götter einer
ewigen Jugend. Der erste Anblick berührt fast wie ein Theatereffekt. Man
ist etwa sieben Minuten durch die Nacht des längsten französischen Tunnels
gefahren: plötzlich öffnet sich der Berg, und im Sonnenglanze liegt mit ihren
hellgrauen Felseninseln die weite blaue Bucht von Marseille da. War es das
Entzücken über diese an die Heimat erinnernde Landschaft, war es die Voraus¬
sicht, daß sich am sicher" Hafen eines solchen Golfes eine mächtige Stadt ent¬
wickeln müsse, oder veranlaßte die größere Entfernung von den kriegerischen
Ligurern die Griechen aus Phokäa, ihre Schiffe hier ans Land zu ziehen und
sich Hütten zu bauen? Jedenfalls faßte die von der kleinasiatischen Heimat
gänzlich losgelöste Kolonie Massaua Wurzel, wuchs und streute weithin Samen


Massaua

die aber männlichen Gestalten gegenüber fast immer versagt; ihre Frauen sind
oft eigentümlich, immer lebenswahr gegeben. Das zeigt ihre erst jetzt ver¬
öffentlichte Jugendarbeit „Gunhild Kersten" (4. Aufl., Stuttgart und Leipzig,
Deutsche Berlagscmstalt, 1904) schon überall. Das Charakterbild der Gunhild
Kersten ist in einem klaren Aufbau aufgeführt vom Beginne bis zum Gipfel,
die Männer, besonders Gnnhilds eigentlicher Gegenspieler, haben etwas roman¬
haftes, lebensunwahres. Das Buch ist eine starke Talentprobe — aber der
Abstand der spätern Werke von diesem frühen ist nicht eben groß. Über
„Liselotte von Reckling" (Berlin, S. Fischer, 1904) ließe sich genau dasselbe
sagen wie über „Gunhild Kersten." Es fehlt nur das Jugendliche dieser
Arbeit, und darum ist mir „Gunhild Kersten" lieber.

Ich stehe wieder auf dem Leipziger Markte. Und so mache denn ein
Leipziger den Beschluß. Kurt Mariens, der Großstädtische, schließt sich nicht
übel an Frau Reuter an, so seltsam sich seine „Katastrophen" (Berlin, Egon
Fleischel K Comp., 1904) neben Frau Schulze-Smidt oder Weidemann aus¬
nehmen. Es ist ein gut geschriebnes, höchst amüsantes Buch; amüsant ist das
richtigste Wort. Einmal werden „Probleme" angerührt, aber eben nur an¬
gerührt. Sonst bleibt es Unterhaltungslektüre, aber freilich geschmackvolle, in
gutem Deutsch geschriebn«:. Und besonders dem gräßlichen Zeug gegenüber,
das uus gemeinhin als „Humoreske" verzapft wird, sind einzelne dieser ge¬
Heinrich Spiero schmackvollen Geschichten erfreulich.




Massaua
Hermann Freericks von in Münster i. to.

on der zinnengekrönten kleinen Feste aus der Zeit der letzten
Kreuzzüge, von Aigues-Wortes, das mit Rip van Winkels ver¬
wunderten Augen in die fremdgewordne Welt zu starren scheint,
kam ich am Nachmittage nach Marseille: aus der Stadt des Todes
und der Vergangenheit in eine Stadt lebendigster Gegenwart.
Zwar ist diese Gründung jonischer Griechen fast zwei Jahrtausende älter als
der Kreuzfahrerhafen, aber sie erfreut sich wie die griechischen Götter einer
ewigen Jugend. Der erste Anblick berührt fast wie ein Theatereffekt. Man
ist etwa sieben Minuten durch die Nacht des längsten französischen Tunnels
gefahren: plötzlich öffnet sich der Berg, und im Sonnenglanze liegt mit ihren
hellgrauen Felseninseln die weite blaue Bucht von Marseille da. War es das
Entzücken über diese an die Heimat erinnernde Landschaft, war es die Voraus¬
sicht, daß sich am sicher» Hafen eines solchen Golfes eine mächtige Stadt ent¬
wickeln müsse, oder veranlaßte die größere Entfernung von den kriegerischen
Ligurern die Griechen aus Phokäa, ihre Schiffe hier ans Land zu ziehen und
sich Hütten zu bauen? Jedenfalls faßte die von der kleinasiatischen Heimat
gänzlich losgelöste Kolonie Massaua Wurzel, wuchs und streute weithin Samen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/655>, abgerufen am 28.04.2024.