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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

wu Zeit zu Zeit neu bekleidet, wie noch im Jahre 1736 auf Befehl des Marquis
von Chäteaufort. So will ihn noch Volkmann, dessen Reiseführer durch Italien
Goethe benutzte, im Jahre 1770 gesehen haben. Auch die Legende, von einem
alten Soldaten erzählt, dem das Amt zugefallen war, den Leichnam am Todestage
frisch zu bekleiden, fehlt nicht. Er sagt, es wäre gräßlich, den Toten fluchen zu
hören, wenn er nicht gut und prompt bedient würde. Der letzte Bericht ist vom
Jahre 1872 von Diego Monetti, der schreibt: Jetzt ist Bourbon nicht mehr sichtbar,
weil die Mumie durch schlechte Behandlung ruiniert ist, und ebensowenig das
Epitaph, weil keiner sich die Mühe nahm, es nach Wiederherstellung der Mauer
zu erneuern. Das wären die Erinnerungen, die der Abbruch des alten Stadttores
Lederico Brunswick wachruft.


Dorners Religionsphilosophie.

Mi
t Religiousphilosvphien wird seit einigen
Jahren der deutsche Büchermarkt überschwemmt. Das meiste davon ist wertloses
Geschwätz. Aber der Grundriß der Religionsphilosophie von Dr. A. Dörner
'(Leipzig, Dürrsche Buchhandlung, 1903) ist ein sehr gediegnes Buch und bedeutet
einen Fortschritt. Die meisten Schriften über den Gegenstand bewegen sich entweder
in den (auseinandergehenden) Bahnen, die Kant und Schleiermacher eingeschlagen
haben, oder im biologischen Fahrwasser; sie erklären die Religion für reine Gefühs-
sache oder für ein Hilfsmittel der Sittlichkeit oder für eine auf einer gewissen
Stufe der Entwicklung unvermeidliche Illusion. Dörner verwirft ganz entschieden
alle drei Richtungen. Die religiöse Idee ist nach ihm zwar entwickelt worden, aber
sie ist keine Illusion, sondern entspricht der Wirklichkeit, und wenn man mit den
Schulen der beiden genannten Philosophen die Religion als Befriedigung eines
sittlichen oder Herzensbedürfnisses bestehn läßt, ihren Gegenstand jedoch als der
Erkenntniskraft unzugänglich hinstellt, so ist das nicht mehr Religion, sondern höflich
ausgedrückt Selbstbetrug. Die Religion steht und fällt mit ihrer metaphysischen
Grundlage, das heißt mit der Erkenntnis, daß es einen persönlichen Gott gibt.
Dessen Dasein ist beweisbar, und gerade der von Kant verspottete ontologische
Beweis ist die Wurzel der übrigen Beweise, denn er besagt nichts andres, als daß
sich unsre Vernunft gezwungen fühlt, Gott zu denken. Die Religion selbst aber ist
nach Dörner bewußte Einheit mit Gott ohne Aufhebung der relativen Selbständig¬
keit, die der Schöpfer der unsterblichen Menschenseele verliehen hat, Gottmenschheit.
Bedeutet das eine entschiedne Abwendung von modernen Verirrungen, so hält sich
Dörner jedoch in andrer Beziehung nicht ganz von solchen frei. Er wird weder
der Person Christi noch der Kirche und dem Kultus völlig gerecht. Nicht das
Historische, sondern das Metaphysische mache selig, meint er. Wie nun aber, wenn
dem Durchschnittsmenschen das Metaphysische unzugänglich oder nur durch die
Vermittlung des Historischen zugänglich wäre? "Die bloße Idee einer organisierten
Gemeinschaft ist gar nichts wert." schreibt er. Wenn der Idee keine Wirklichkeit
entspräche, könnte man das unterschreiben, aber die kirchliche Gemeinschaft ist seit
neunzehnhundert Jahren eine sehr derbe und mächtige Wirklichkeit, und darum darf
Man auch ihre Idee nicht wertlos nennen; die Stellen Römer 12, 4, 1. Korinther
12, 14 und Ephesier 4, 16, in denen Paulus diese Idee entwickelt, enthalten das
beste vom Kerne dessen, was man heute Soziologie nennt. Daß alle Verfassungs¬
formen und alle Bestandteile des Kultus die Neigung haben, auszuarten und aus
der christlichen Religion ein neues Juden- und Heidentum zu machen, läßt sich
freilich nicht leugnen, aber wenn nun so viel vom christlichen Geist und Leben, als
der gemeine Mann zu fassen vermag, ihm nicht anders als durch Gemeiude-
orgcinisation und Kultus beigebracht werden kann, soll ihn dann der gelehrte Be-
kenner der esoterischen Religion einfach laufen und entweder ins Heidentum oder
in den atheistischen Materialismus versinken lassen? Auf Seite 158 scheint es so,
denn da wird der Gegensatz zwischen dem esoterischen Christentum und der christ¬
lichen Popularreligion als unversöhnlich dargestellt. Später, auf Seite 384, wird


Maßgebliches und Unmaßgebliches

wu Zeit zu Zeit neu bekleidet, wie noch im Jahre 1736 auf Befehl des Marquis
von Chäteaufort. So will ihn noch Volkmann, dessen Reiseführer durch Italien
Goethe benutzte, im Jahre 1770 gesehen haben. Auch die Legende, von einem
alten Soldaten erzählt, dem das Amt zugefallen war, den Leichnam am Todestage
frisch zu bekleiden, fehlt nicht. Er sagt, es wäre gräßlich, den Toten fluchen zu
hören, wenn er nicht gut und prompt bedient würde. Der letzte Bericht ist vom
Jahre 1872 von Diego Monetti, der schreibt: Jetzt ist Bourbon nicht mehr sichtbar,
weil die Mumie durch schlechte Behandlung ruiniert ist, und ebensowenig das
Epitaph, weil keiner sich die Mühe nahm, es nach Wiederherstellung der Mauer
zu erneuern. Das wären die Erinnerungen, die der Abbruch des alten Stadttores
Lederico Brunswick wachruft.


Dorners Religionsphilosophie.

Mi
t Religiousphilosvphien wird seit einigen
Jahren der deutsche Büchermarkt überschwemmt. Das meiste davon ist wertloses
Geschwätz. Aber der Grundriß der Religionsphilosophie von Dr. A. Dörner
'(Leipzig, Dürrsche Buchhandlung, 1903) ist ein sehr gediegnes Buch und bedeutet
einen Fortschritt. Die meisten Schriften über den Gegenstand bewegen sich entweder
in den (auseinandergehenden) Bahnen, die Kant und Schleiermacher eingeschlagen
haben, oder im biologischen Fahrwasser; sie erklären die Religion für reine Gefühs-
sache oder für ein Hilfsmittel der Sittlichkeit oder für eine auf einer gewissen
Stufe der Entwicklung unvermeidliche Illusion. Dörner verwirft ganz entschieden
alle drei Richtungen. Die religiöse Idee ist nach ihm zwar entwickelt worden, aber
sie ist keine Illusion, sondern entspricht der Wirklichkeit, und wenn man mit den
Schulen der beiden genannten Philosophen die Religion als Befriedigung eines
sittlichen oder Herzensbedürfnisses bestehn läßt, ihren Gegenstand jedoch als der
Erkenntniskraft unzugänglich hinstellt, so ist das nicht mehr Religion, sondern höflich
ausgedrückt Selbstbetrug. Die Religion steht und fällt mit ihrer metaphysischen
Grundlage, das heißt mit der Erkenntnis, daß es einen persönlichen Gott gibt.
Dessen Dasein ist beweisbar, und gerade der von Kant verspottete ontologische
Beweis ist die Wurzel der übrigen Beweise, denn er besagt nichts andres, als daß
sich unsre Vernunft gezwungen fühlt, Gott zu denken. Die Religion selbst aber ist
nach Dörner bewußte Einheit mit Gott ohne Aufhebung der relativen Selbständig¬
keit, die der Schöpfer der unsterblichen Menschenseele verliehen hat, Gottmenschheit.
Bedeutet das eine entschiedne Abwendung von modernen Verirrungen, so hält sich
Dörner jedoch in andrer Beziehung nicht ganz von solchen frei. Er wird weder
der Person Christi noch der Kirche und dem Kultus völlig gerecht. Nicht das
Historische, sondern das Metaphysische mache selig, meint er. Wie nun aber, wenn
dem Durchschnittsmenschen das Metaphysische unzugänglich oder nur durch die
Vermittlung des Historischen zugänglich wäre? „Die bloße Idee einer organisierten
Gemeinschaft ist gar nichts wert." schreibt er. Wenn der Idee keine Wirklichkeit
entspräche, könnte man das unterschreiben, aber die kirchliche Gemeinschaft ist seit
neunzehnhundert Jahren eine sehr derbe und mächtige Wirklichkeit, und darum darf
Man auch ihre Idee nicht wertlos nennen; die Stellen Römer 12, 4, 1. Korinther
12, 14 und Ephesier 4, 16, in denen Paulus diese Idee entwickelt, enthalten das
beste vom Kerne dessen, was man heute Soziologie nennt. Daß alle Verfassungs¬
formen und alle Bestandteile des Kultus die Neigung haben, auszuarten und aus
der christlichen Religion ein neues Juden- und Heidentum zu machen, läßt sich
freilich nicht leugnen, aber wenn nun so viel vom christlichen Geist und Leben, als
der gemeine Mann zu fassen vermag, ihm nicht anders als durch Gemeiude-
orgcinisation und Kultus beigebracht werden kann, soll ihn dann der gelehrte Be-
kenner der esoterischen Religion einfach laufen und entweder ins Heidentum oder
in den atheistischen Materialismus versinken lassen? Auf Seite 158 scheint es so,
denn da wird der Gegensatz zwischen dem esoterischen Christentum und der christ¬
lichen Popularreligion als unversöhnlich dargestellt. Später, auf Seite 384, wird


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[0479] Maßgebliches und Unmaßgebliches wu Zeit zu Zeit neu bekleidet, wie noch im Jahre 1736 auf Befehl des Marquis von Chäteaufort. So will ihn noch Volkmann, dessen Reiseführer durch Italien Goethe benutzte, im Jahre 1770 gesehen haben. Auch die Legende, von einem alten Soldaten erzählt, dem das Amt zugefallen war, den Leichnam am Todestage frisch zu bekleiden, fehlt nicht. Er sagt, es wäre gräßlich, den Toten fluchen zu hören, wenn er nicht gut und prompt bedient würde. Der letzte Bericht ist vom Jahre 1872 von Diego Monetti, der schreibt: Jetzt ist Bourbon nicht mehr sichtbar, weil die Mumie durch schlechte Behandlung ruiniert ist, und ebensowenig das Epitaph, weil keiner sich die Mühe nahm, es nach Wiederherstellung der Mauer zu erneuern. Das wären die Erinnerungen, die der Abbruch des alten Stadttores Lederico Brunswick wachruft. Dorners Religionsphilosophie. Mi t Religiousphilosvphien wird seit einigen Jahren der deutsche Büchermarkt überschwemmt. Das meiste davon ist wertloses Geschwätz. Aber der Grundriß der Religionsphilosophie von Dr. A. Dörner '(Leipzig, Dürrsche Buchhandlung, 1903) ist ein sehr gediegnes Buch und bedeutet einen Fortschritt. Die meisten Schriften über den Gegenstand bewegen sich entweder in den (auseinandergehenden) Bahnen, die Kant und Schleiermacher eingeschlagen haben, oder im biologischen Fahrwasser; sie erklären die Religion für reine Gefühs- sache oder für ein Hilfsmittel der Sittlichkeit oder für eine auf einer gewissen Stufe der Entwicklung unvermeidliche Illusion. Dörner verwirft ganz entschieden alle drei Richtungen. Die religiöse Idee ist nach ihm zwar entwickelt worden, aber sie ist keine Illusion, sondern entspricht der Wirklichkeit, und wenn man mit den Schulen der beiden genannten Philosophen die Religion als Befriedigung eines sittlichen oder Herzensbedürfnisses bestehn läßt, ihren Gegenstand jedoch als der Erkenntniskraft unzugänglich hinstellt, so ist das nicht mehr Religion, sondern höflich ausgedrückt Selbstbetrug. Die Religion steht und fällt mit ihrer metaphysischen Grundlage, das heißt mit der Erkenntnis, daß es einen persönlichen Gott gibt. Dessen Dasein ist beweisbar, und gerade der von Kant verspottete ontologische Beweis ist die Wurzel der übrigen Beweise, denn er besagt nichts andres, als daß sich unsre Vernunft gezwungen fühlt, Gott zu denken. Die Religion selbst aber ist nach Dörner bewußte Einheit mit Gott ohne Aufhebung der relativen Selbständig¬ keit, die der Schöpfer der unsterblichen Menschenseele verliehen hat, Gottmenschheit. Bedeutet das eine entschiedne Abwendung von modernen Verirrungen, so hält sich Dörner jedoch in andrer Beziehung nicht ganz von solchen frei. Er wird weder der Person Christi noch der Kirche und dem Kultus völlig gerecht. Nicht das Historische, sondern das Metaphysische mache selig, meint er. Wie nun aber, wenn dem Durchschnittsmenschen das Metaphysische unzugänglich oder nur durch die Vermittlung des Historischen zugänglich wäre? „Die bloße Idee einer organisierten Gemeinschaft ist gar nichts wert." schreibt er. Wenn der Idee keine Wirklichkeit entspräche, könnte man das unterschreiben, aber die kirchliche Gemeinschaft ist seit neunzehnhundert Jahren eine sehr derbe und mächtige Wirklichkeit, und darum darf Man auch ihre Idee nicht wertlos nennen; die Stellen Römer 12, 4, 1. Korinther 12, 14 und Ephesier 4, 16, in denen Paulus diese Idee entwickelt, enthalten das beste vom Kerne dessen, was man heute Soziologie nennt. Daß alle Verfassungs¬ formen und alle Bestandteile des Kultus die Neigung haben, auszuarten und aus der christlichen Religion ein neues Juden- und Heidentum zu machen, läßt sich freilich nicht leugnen, aber wenn nun so viel vom christlichen Geist und Leben, als der gemeine Mann zu fassen vermag, ihm nicht anders als durch Gemeiude- orgcinisation und Kultus beigebracht werden kann, soll ihn dann der gelehrte Be- kenner der esoterischen Religion einfach laufen und entweder ins Heidentum oder in den atheistischen Materialismus versinken lassen? Auf Seite 158 scheint es so, denn da wird der Gegensatz zwischen dem esoterischen Christentum und der christ¬ lichen Popularreligion als unversöhnlich dargestellt. Später, auf Seite 384, wird

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/479>, abgerufen am 03.05.2024.