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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Junge Herzen
Lhristovher Boeck Erzählung von
(Fortsetzung)
22. Der Winter wird strenger

er Tag nach dem Feste war der erste richtige Wintertag. Weit und
breit lag Schnee.

Helene sah entzückt die Tanne in dem dicken, weißen Pelz stehn.
Sie öffnete das Fenster, und der Schnee rieselte hinab. Da flog
ihr ein kleiner Schneeball ins Gesicht. Er kam von Preber, der
mitten in einer Schneewehe stand und sie bombardierte. Sie nahm
den Schnee vom Fensterbrett und erwiderte seinen Wurf. Da wurde unten ein
Fenster geöffnet, und Frau Lönberg rief scharf herauf: Ich Hütte nicht geglaubt,
daß Sie die schlechten Instinkte der Kinder ermunterten.

Helene zog sich zurück, eilte zu Großmutter hinüber und erzählte ihr von dem
Maskenball.

Großmutter hörte ihr immer bekümmerter zu und dachte bei sich: Das vergibt
die Bürgerschaft der Umgegend ihr nicht!

Und leider sollte sie Recht bekommen. Helene hatte aus dem Morgengruß
der Kanzleirätin eine Kriegstrompete herausgehört. Und auch sie irrte sich nicht.
Die Apothekerin hatte mit eignen Augen gesehen, daß diese unbedeutende Kopen-
hagnerin ihre Tochter in den Schatten stellte. Und wahrend der Kanzleirat den
Rausch ausschlief, hatte sie Desideria im Nebenzimmer schluchzen hören.

Aber was sollte sie tun?

Eine andre Gouvernante konnte sie schon bekommen. Aber die Kinder hingen
°u ihr, und Großmutter protegierte sie.

Das beste war, wenn sie sich selbst unmöglich machte! Wie sollte das aber
nur geschehen?

Denn was sie auch tun mochte, immer gefiel sie den Leuten.

Ob sie aber diesesmal nicht doch zu kühn gewesen war? Frau Lönberg hatte
ewe Ahnung davon.

Sie war zu ungeniert in ihrem Benehmen dem Stammherrn gegenüber ge¬
wesen. Das konnte den Eltern unmöglich gefallen.

Am Nachmittag kamen der Medizinalrat mit Frau und Tochter gefahren, um
über die Ereignisse der Nacht zu schwatzen. Und der Medizinalrat erzählte, daß
er heute Mittag zum Gutsverwalter gerufen worden sei, der an Influenza erkrankt
wäre. Dort habe er erfahren, daß der Stammherr heute über Hals und Kopf
Abgereist sei, um seine Studien zu vollenden -- eine eingehende Untersuchung der
Lebensweise der Zigeuner, fügte er boshaft hinzu.

Im Laufe der Woche wußte dann die ganze Gegend, daß der Stammherr
weggeschickt worden sei, um sein Herz vor bürgerlichen Leidenschaften zu bewahren.

Nun, was sagen Sie denn zu ihrem Auftreten, Frau Kanzleirat? fragte die
-vcedizinalrätin.

Sie ist im Besitz einer großen Hcirdiesse! antwortete die Apothekerin.

Hierzu bemerkte der Medizinalrat: Sie ist frech -- abscheulich --

Vater! sagte Berta flehentlich.




Junge Herzen
Lhristovher Boeck Erzählung von
(Fortsetzung)
22. Der Winter wird strenger

er Tag nach dem Feste war der erste richtige Wintertag. Weit und
breit lag Schnee.

Helene sah entzückt die Tanne in dem dicken, weißen Pelz stehn.
Sie öffnete das Fenster, und der Schnee rieselte hinab. Da flog
ihr ein kleiner Schneeball ins Gesicht. Er kam von Preber, der
mitten in einer Schneewehe stand und sie bombardierte. Sie nahm
den Schnee vom Fensterbrett und erwiderte seinen Wurf. Da wurde unten ein
Fenster geöffnet, und Frau Lönberg rief scharf herauf: Ich Hütte nicht geglaubt,
daß Sie die schlechten Instinkte der Kinder ermunterten.

Helene zog sich zurück, eilte zu Großmutter hinüber und erzählte ihr von dem
Maskenball.

Großmutter hörte ihr immer bekümmerter zu und dachte bei sich: Das vergibt
die Bürgerschaft der Umgegend ihr nicht!

Und leider sollte sie Recht bekommen. Helene hatte aus dem Morgengruß
der Kanzleirätin eine Kriegstrompete herausgehört. Und auch sie irrte sich nicht.
Die Apothekerin hatte mit eignen Augen gesehen, daß diese unbedeutende Kopen-
hagnerin ihre Tochter in den Schatten stellte. Und wahrend der Kanzleirat den
Rausch ausschlief, hatte sie Desideria im Nebenzimmer schluchzen hören.

Aber was sollte sie tun?

Eine andre Gouvernante konnte sie schon bekommen. Aber die Kinder hingen
°u ihr, und Großmutter protegierte sie.

Das beste war, wenn sie sich selbst unmöglich machte! Wie sollte das aber
nur geschehen?

Denn was sie auch tun mochte, immer gefiel sie den Leuten.

Ob sie aber diesesmal nicht doch zu kühn gewesen war? Frau Lönberg hatte
ewe Ahnung davon.

Sie war zu ungeniert in ihrem Benehmen dem Stammherrn gegenüber ge¬
wesen. Das konnte den Eltern unmöglich gefallen.

Am Nachmittag kamen der Medizinalrat mit Frau und Tochter gefahren, um
über die Ereignisse der Nacht zu schwatzen. Und der Medizinalrat erzählte, daß
er heute Mittag zum Gutsverwalter gerufen worden sei, der an Influenza erkrankt
wäre. Dort habe er erfahren, daß der Stammherr heute über Hals und Kopf
Abgereist sei, um seine Studien zu vollenden — eine eingehende Untersuchung der
Lebensweise der Zigeuner, fügte er boshaft hinzu.

Im Laufe der Woche wußte dann die ganze Gegend, daß der Stammherr
weggeschickt worden sei, um sein Herz vor bürgerlichen Leidenschaften zu bewahren.

Nun, was sagen Sie denn zu ihrem Auftreten, Frau Kanzleirat? fragte die
-vcedizinalrätin.

Sie ist im Besitz einer großen Hcirdiesse! antwortete die Apothekerin.

Hierzu bemerkte der Medizinalrat: Sie ist frech — abscheulich —

Vater! sagte Berta flehentlich.


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[0105] [Abbildung] Junge Herzen Lhristovher Boeck Erzählung von (Fortsetzung) 22. Der Winter wird strenger er Tag nach dem Feste war der erste richtige Wintertag. Weit und breit lag Schnee. Helene sah entzückt die Tanne in dem dicken, weißen Pelz stehn. Sie öffnete das Fenster, und der Schnee rieselte hinab. Da flog ihr ein kleiner Schneeball ins Gesicht. Er kam von Preber, der mitten in einer Schneewehe stand und sie bombardierte. Sie nahm den Schnee vom Fensterbrett und erwiderte seinen Wurf. Da wurde unten ein Fenster geöffnet, und Frau Lönberg rief scharf herauf: Ich Hütte nicht geglaubt, daß Sie die schlechten Instinkte der Kinder ermunterten. Helene zog sich zurück, eilte zu Großmutter hinüber und erzählte ihr von dem Maskenball. Großmutter hörte ihr immer bekümmerter zu und dachte bei sich: Das vergibt die Bürgerschaft der Umgegend ihr nicht! Und leider sollte sie Recht bekommen. Helene hatte aus dem Morgengruß der Kanzleirätin eine Kriegstrompete herausgehört. Und auch sie irrte sich nicht. Die Apothekerin hatte mit eignen Augen gesehen, daß diese unbedeutende Kopen- hagnerin ihre Tochter in den Schatten stellte. Und wahrend der Kanzleirat den Rausch ausschlief, hatte sie Desideria im Nebenzimmer schluchzen hören. Aber was sollte sie tun? Eine andre Gouvernante konnte sie schon bekommen. Aber die Kinder hingen °u ihr, und Großmutter protegierte sie. Das beste war, wenn sie sich selbst unmöglich machte! Wie sollte das aber nur geschehen? Denn was sie auch tun mochte, immer gefiel sie den Leuten. Ob sie aber diesesmal nicht doch zu kühn gewesen war? Frau Lönberg hatte ewe Ahnung davon. Sie war zu ungeniert in ihrem Benehmen dem Stammherrn gegenüber ge¬ wesen. Das konnte den Eltern unmöglich gefallen. Am Nachmittag kamen der Medizinalrat mit Frau und Tochter gefahren, um über die Ereignisse der Nacht zu schwatzen. Und der Medizinalrat erzählte, daß er heute Mittag zum Gutsverwalter gerufen worden sei, der an Influenza erkrankt wäre. Dort habe er erfahren, daß der Stammherr heute über Hals und Kopf Abgereist sei, um seine Studien zu vollenden — eine eingehende Untersuchung der Lebensweise der Zigeuner, fügte er boshaft hinzu. Im Laufe der Woche wußte dann die ganze Gegend, daß der Stammherr weggeschickt worden sei, um sein Herz vor bürgerlichen Leidenschaften zu bewahren. Nun, was sagen Sie denn zu ihrem Auftreten, Frau Kanzleirat? fragte die -vcedizinalrätin. Sie ist im Besitz einer großen Hcirdiesse! antwortete die Apothekerin. Hierzu bemerkte der Medizinalrat: Sie ist frech — abscheulich — Vater! sagte Berta flehentlich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/105>, abgerufen am 07.05.2024.