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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Was ist eigentlich der Mittelstand?

vorliegt, Neformatorische Talente wie Stein, Hardenberg, Thaer und andre
ruhmvollen Angedenkens pflegen freilich nicht cillsogleich zur Stelle zu sein,
wenn sich bedenkliche Stockungen im nationalen Räderwerk bemerkbar machen;
auf einem deutlich vorgezeichneten Leitpfade müßten aber auch die all wworum,
Köntiuni, sofern sie die rechte Gesinnung und Charakterstärke haben, das
Vorwärtsschreiten erfolgreich fördern können. Jedenfalls will uns nicht ein¬
leuchten, warum man gerade dem Slawentum die Fähigkeit zum Emporsteigen
aus den Niederungen nationalen Daseins absprechen soll. Keinesfalls aber
rechtfertigen die in manchen Stücken unbestreitbar unbefriedigender Ergebnisse
der russischen Wirtschaftsführung ein Urteil, das aus vergangner Trübsal und
gegenwärtiger Rückständigkeit eine zukünftige Entwicklung auf abwärts führender
Bahn glaubt voraussagen zu dürfen.

Professor Delbrück beschwert sich, daß man "seinen" Kritikern nicht die
Ehre einer eingehenden Widerlegung zuteil werden läßt. Mir scheint, daß
die tendenziöse Angriffstaktik der genannten Schriftsteller die Aufstellung einer
Gegenmeinung erschwert. Zunächst wäre es wohl Sache der russischen Re¬
gierung, schiefe Darstellungen ihrer Kritiker zu berichtigen; gerade sie trügt
aber Bedenken, wie wir zu wissen glauben, sich mit einer häufig seichten
oder auf Sensation berechneten Publizistik in ernste Auseinandersetzungen
einzulassen. Eine maßgebende Persönlichkeit der russischen Finanzverwaltung
begründete mir gegenüber diese Zurückhaltung wie folgt: "Meinen Sie, daß
der deutsche Reichsschatzsekretär mit Widerlegungen sofort bei der Hand sein
würde, wenn irgendeiner unsrer zahllosen (russischen) Staatsräte in einer
Sensationsbroschüre den Nachweis unternähme, daß das Deutsche Reich, das
ohne festen Tilgungsplan Anleihen auf Anleihen häuft, unrettbar einem
finanziellen Jena entgegengehe? Und was würde man in Deutschland dazu
sagen, wenn dieser schreiblustige Tschinownik dem Deutschen Reich alles Ernstes
anriete, auf dem Wege der Bankrotterklärung, also durch eine gewissenlose
Beeinträchtigung seiner Gläubiger, sich seine Zahluugspflichten vom Halse zu
schaffen? Man würde ihn auslachen! Auch das Buch Martins kaun von uns
unmöglich ernst genommen werden." Immerhin mögen auch noch Erwägungen
andrer Art für die Schweigsamkeit auf russischer Seite maßgebend sein.


v. rvittschewsky


was ist eigentlich der Mittelstand?
Hugo Böttger von

!in Völlig klarer, fest umschriebner Begriff ist der Begriff Mittel¬
stand nicht. Er hat etwas weiches, nachgiebiges, dehnungsfähiges,
wie die meisten volkswirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen.
Man weiß nur, daß zwischen Proletariat und Reichtum eine
> soziale Mittelschicht gelagert ist, die man Mittelstand nennt.
Zum Proletariat gehören nun die Klassen oder Schichten, deren Einkommen
durchweg Arbeitseinkommen ist, die die Arbeitsmittel nicht in ihrem eignenW


Was ist eigentlich der Mittelstand?

vorliegt, Neformatorische Talente wie Stein, Hardenberg, Thaer und andre
ruhmvollen Angedenkens pflegen freilich nicht cillsogleich zur Stelle zu sein,
wenn sich bedenkliche Stockungen im nationalen Räderwerk bemerkbar machen;
auf einem deutlich vorgezeichneten Leitpfade müßten aber auch die all wworum,
Köntiuni, sofern sie die rechte Gesinnung und Charakterstärke haben, das
Vorwärtsschreiten erfolgreich fördern können. Jedenfalls will uns nicht ein¬
leuchten, warum man gerade dem Slawentum die Fähigkeit zum Emporsteigen
aus den Niederungen nationalen Daseins absprechen soll. Keinesfalls aber
rechtfertigen die in manchen Stücken unbestreitbar unbefriedigender Ergebnisse
der russischen Wirtschaftsführung ein Urteil, das aus vergangner Trübsal und
gegenwärtiger Rückständigkeit eine zukünftige Entwicklung auf abwärts führender
Bahn glaubt voraussagen zu dürfen.

Professor Delbrück beschwert sich, daß man „seinen" Kritikern nicht die
Ehre einer eingehenden Widerlegung zuteil werden läßt. Mir scheint, daß
die tendenziöse Angriffstaktik der genannten Schriftsteller die Aufstellung einer
Gegenmeinung erschwert. Zunächst wäre es wohl Sache der russischen Re¬
gierung, schiefe Darstellungen ihrer Kritiker zu berichtigen; gerade sie trügt
aber Bedenken, wie wir zu wissen glauben, sich mit einer häufig seichten
oder auf Sensation berechneten Publizistik in ernste Auseinandersetzungen
einzulassen. Eine maßgebende Persönlichkeit der russischen Finanzverwaltung
begründete mir gegenüber diese Zurückhaltung wie folgt: „Meinen Sie, daß
der deutsche Reichsschatzsekretär mit Widerlegungen sofort bei der Hand sein
würde, wenn irgendeiner unsrer zahllosen (russischen) Staatsräte in einer
Sensationsbroschüre den Nachweis unternähme, daß das Deutsche Reich, das
ohne festen Tilgungsplan Anleihen auf Anleihen häuft, unrettbar einem
finanziellen Jena entgegengehe? Und was würde man in Deutschland dazu
sagen, wenn dieser schreiblustige Tschinownik dem Deutschen Reich alles Ernstes
anriete, auf dem Wege der Bankrotterklärung, also durch eine gewissenlose
Beeinträchtigung seiner Gläubiger, sich seine Zahluugspflichten vom Halse zu
schaffen? Man würde ihn auslachen! Auch das Buch Martins kaun von uns
unmöglich ernst genommen werden." Immerhin mögen auch noch Erwägungen
andrer Art für die Schweigsamkeit auf russischer Seite maßgebend sein.


v. rvittschewsky


was ist eigentlich der Mittelstand?
Hugo Böttger von

!in Völlig klarer, fest umschriebner Begriff ist der Begriff Mittel¬
stand nicht. Er hat etwas weiches, nachgiebiges, dehnungsfähiges,
wie die meisten volkswirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen.
Man weiß nur, daß zwischen Proletariat und Reichtum eine
> soziale Mittelschicht gelagert ist, die man Mittelstand nennt.
Zum Proletariat gehören nun die Klassen oder Schichten, deren Einkommen
durchweg Arbeitseinkommen ist, die die Arbeitsmittel nicht in ihrem eignenW


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/192>, abgerufen am 07.05.2024.