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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen

wir mit scharfen Augen in der Vergangenheit zu beobachten haben, wo auch
im Familienleben und in der Familienorganisation der uralte Konflikt zwischen
Individuum und Gesellschaft seine Spuren hinterlassen hat. Unter der Decke
des äußern Geschehens und der äußern Anordnung gilt es, die tastenden oder
langenden Arme menschlicher Motive zu fassen, um ein wenig dazu beizu¬
tragen, die Geschichte der menschlichen Seele zu enträtseln. Wer nur etwas
an irgendeinem Teile des sozialen Lebens in das bewegte Innere einer Organi¬
sation schauen kann, der weiß, wie not es tut, die äußerliche Argumentation
aufzugeben, die die sozialen Zustünde wie Formeln behandelt, bei denen man
mit logischer Rechnung einen Satz aus dem andern entwickelt. Die Ver¬
kettungen sozialer Kausalität sind so zahlreich, daß nur die Anschauung, die das
Bild des Lebens plastisch vor sich sieht, und die Fähigkeit, mit den Menschen,
deren Zustände man studiert, zu empfinden, dazu verhilft, den rechten Aus¬
gangspunkt zu gewinnen.




Von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen

cum heute von einer Reform der katholischen Kirche gesprochen
wird, so handelt es sich nicht, wie im sechzehnten Jahrhundert,
um massenhafte grobe Verstoße der Geistlichkeit gegen das Sitten¬
gesetz oder um die weltliche Herrschaft der Hierarchie und die
finanzielle Ausbeutung der Völker. Die zuletzt genannten beiden
Übel hat die geschichtliche Entwicklung hinweggeschwemmt (was die Katholiken
aus Frömmigkeit an Geldopfern leisten, kommt neben der Ausbeutung der
Völker durch Börsenspekulanten, Trusts und Monopole nicht in Betracht),
und dadurch sowie durch die heute herrschende Öffentlichkeit des Lebens ist
auch das erste unmöglich geworden. Es handelt sich meist um Dinge, die
nur den wissenschaftlich gebildeten Geist und das fein organisierte Gemüt ver¬
letzen, während die Masse keinen Anstoß daran nimmt, ja zum Teil diese
Dinge leidenschaftlich liebt. Die katholische Hierarchie mag ans dieser Lage der
Dinge den Schluß ziehn, daß es einer Kirchenreform nicht bedürfe. Doch
könnte zweierlei sie bedenklich machen: der Sieg ihrer Gegner in dem ganz
katholischen Frankreich, der geistig und politisch bedeutendsten unter den katho¬
lischen Möchten, und der Umschlag der Stimmung in den Rom zuneigenden
hochkirchlichen Kreisen Englands seit 1870. Unter den Papieren des verstorbnen
Kardinals Manning ist, wie ich vor einiger Zeit in den Preußischen Jahr¬
büchern las, eine Betrachtung gefunden worden über das Stocken des Fort¬
schritts des Katholizismus in: britischen Reiche. Manning führt neun Ursachen
dafür ein, als letzte -- die Jesuiten, die, indem sie ihre Eigentümlichkeit der
ganzen Kirche aufgeprägt hätten, diese den Andersgläubigen widerwärtig machten.
Mögen auch die Denker und die feiner Organisierten, denen das katholische
Kirchenwesen in seiner heutigen Gestalt unannehmbar erscheint, nur eine kleine
Minderheit ausmachen, sie sind die führenden, sie üben entscheidenden Einfluß


Grenzvoten IV 1905 35
von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen

wir mit scharfen Augen in der Vergangenheit zu beobachten haben, wo auch
im Familienleben und in der Familienorganisation der uralte Konflikt zwischen
Individuum und Gesellschaft seine Spuren hinterlassen hat. Unter der Decke
des äußern Geschehens und der äußern Anordnung gilt es, die tastenden oder
langenden Arme menschlicher Motive zu fassen, um ein wenig dazu beizu¬
tragen, die Geschichte der menschlichen Seele zu enträtseln. Wer nur etwas
an irgendeinem Teile des sozialen Lebens in das bewegte Innere einer Organi¬
sation schauen kann, der weiß, wie not es tut, die äußerliche Argumentation
aufzugeben, die die sozialen Zustünde wie Formeln behandelt, bei denen man
mit logischer Rechnung einen Satz aus dem andern entwickelt. Die Ver¬
kettungen sozialer Kausalität sind so zahlreich, daß nur die Anschauung, die das
Bild des Lebens plastisch vor sich sieht, und die Fähigkeit, mit den Menschen,
deren Zustände man studiert, zu empfinden, dazu verhilft, den rechten Aus¬
gangspunkt zu gewinnen.




Von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen

cum heute von einer Reform der katholischen Kirche gesprochen
wird, so handelt es sich nicht, wie im sechzehnten Jahrhundert,
um massenhafte grobe Verstoße der Geistlichkeit gegen das Sitten¬
gesetz oder um die weltliche Herrschaft der Hierarchie und die
finanzielle Ausbeutung der Völker. Die zuletzt genannten beiden
Übel hat die geschichtliche Entwicklung hinweggeschwemmt (was die Katholiken
aus Frömmigkeit an Geldopfern leisten, kommt neben der Ausbeutung der
Völker durch Börsenspekulanten, Trusts und Monopole nicht in Betracht),
und dadurch sowie durch die heute herrschende Öffentlichkeit des Lebens ist
auch das erste unmöglich geworden. Es handelt sich meist um Dinge, die
nur den wissenschaftlich gebildeten Geist und das fein organisierte Gemüt ver¬
letzen, während die Masse keinen Anstoß daran nimmt, ja zum Teil diese
Dinge leidenschaftlich liebt. Die katholische Hierarchie mag ans dieser Lage der
Dinge den Schluß ziehn, daß es einer Kirchenreform nicht bedürfe. Doch
könnte zweierlei sie bedenklich machen: der Sieg ihrer Gegner in dem ganz
katholischen Frankreich, der geistig und politisch bedeutendsten unter den katho¬
lischen Möchten, und der Umschlag der Stimmung in den Rom zuneigenden
hochkirchlichen Kreisen Englands seit 1870. Unter den Papieren des verstorbnen
Kardinals Manning ist, wie ich vor einiger Zeit in den Preußischen Jahr¬
büchern las, eine Betrachtung gefunden worden über das Stocken des Fort¬
schritts des Katholizismus in: britischen Reiche. Manning führt neun Ursachen
dafür ein, als letzte — die Jesuiten, die, indem sie ihre Eigentümlichkeit der
ganzen Kirche aufgeprägt hätten, diese den Andersgläubigen widerwärtig machten.
Mögen auch die Denker und die feiner Organisierten, denen das katholische
Kirchenwesen in seiner heutigen Gestalt unannehmbar erscheint, nur eine kleine
Minderheit ausmachen, sie sind die führenden, sie üben entscheidenden Einfluß


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[0429] von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen wir mit scharfen Augen in der Vergangenheit zu beobachten haben, wo auch im Familienleben und in der Familienorganisation der uralte Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft seine Spuren hinterlassen hat. Unter der Decke des äußern Geschehens und der äußern Anordnung gilt es, die tastenden oder langenden Arme menschlicher Motive zu fassen, um ein wenig dazu beizu¬ tragen, die Geschichte der menschlichen Seele zu enträtseln. Wer nur etwas an irgendeinem Teile des sozialen Lebens in das bewegte Innere einer Organi¬ sation schauen kann, der weiß, wie not es tut, die äußerliche Argumentation aufzugeben, die die sozialen Zustünde wie Formeln behandelt, bei denen man mit logischer Rechnung einen Satz aus dem andern entwickelt. Die Ver¬ kettungen sozialer Kausalität sind so zahlreich, daß nur die Anschauung, die das Bild des Lebens plastisch vor sich sieht, und die Fähigkeit, mit den Menschen, deren Zustände man studiert, zu empfinden, dazu verhilft, den rechten Aus¬ gangspunkt zu gewinnen. Von Zölibat, Brevier, Meßstipendien und Klosterwesen cum heute von einer Reform der katholischen Kirche gesprochen wird, so handelt es sich nicht, wie im sechzehnten Jahrhundert, um massenhafte grobe Verstoße der Geistlichkeit gegen das Sitten¬ gesetz oder um die weltliche Herrschaft der Hierarchie und die finanzielle Ausbeutung der Völker. Die zuletzt genannten beiden Übel hat die geschichtliche Entwicklung hinweggeschwemmt (was die Katholiken aus Frömmigkeit an Geldopfern leisten, kommt neben der Ausbeutung der Völker durch Börsenspekulanten, Trusts und Monopole nicht in Betracht), und dadurch sowie durch die heute herrschende Öffentlichkeit des Lebens ist auch das erste unmöglich geworden. Es handelt sich meist um Dinge, die nur den wissenschaftlich gebildeten Geist und das fein organisierte Gemüt ver¬ letzen, während die Masse keinen Anstoß daran nimmt, ja zum Teil diese Dinge leidenschaftlich liebt. Die katholische Hierarchie mag ans dieser Lage der Dinge den Schluß ziehn, daß es einer Kirchenreform nicht bedürfe. Doch könnte zweierlei sie bedenklich machen: der Sieg ihrer Gegner in dem ganz katholischen Frankreich, der geistig und politisch bedeutendsten unter den katho¬ lischen Möchten, und der Umschlag der Stimmung in den Rom zuneigenden hochkirchlichen Kreisen Englands seit 1870. Unter den Papieren des verstorbnen Kardinals Manning ist, wie ich vor einiger Zeit in den Preußischen Jahr¬ büchern las, eine Betrachtung gefunden worden über das Stocken des Fort¬ schritts des Katholizismus in: britischen Reiche. Manning führt neun Ursachen dafür ein, als letzte — die Jesuiten, die, indem sie ihre Eigentümlichkeit der ganzen Kirche aufgeprägt hätten, diese den Andersgläubigen widerwärtig machten. Mögen auch die Denker und die feiner Organisierten, denen das katholische Kirchenwesen in seiner heutigen Gestalt unannehmbar erscheint, nur eine kleine Minderheit ausmachen, sie sind die führenden, sie üben entscheidenden Einfluß Grenzvoten IV 1905 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/429>, abgerufen am 07.05.2024.