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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr.

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Apollo und Dionysos

ainer wieder dieser Nietzsche, wird der Leser unwillig ausrufen.
Aber wir werden den Unglücklichen noch nicht so bald loswerden,
weil sein Unglück eben darin bestanden hat, daß seine Seele von
allen Strömungen unsrer Zeit ergriffen, von allen ihren Wider¬
sprüchen zerrissen wurde, und daß er diesen Strömungen und
Widersprüchen den packendsten Ausdruck verliehen hat. Das Werk des Fran¬
zosen^) aber dürfen wir schon deswegen nicht mit Stillschweigen übergehn, weil
es die beste Medizin für die Nietzschenarren enthält: eine humoristische Dar¬
stellung des Veitstanzes, den der große intellektuelle Epileptiker in seinen
Schriften aufführt. Schon Gobineau ist von demselben Verfasser humoristisch¬
satirisch behandelt worden. Wir haben (im 37. Heft des Jahrgangs 1903)
gesehen, daß es die Abneigung des Franzosen und Demokraten gegen den angel¬
sächsisch-deutschen Nnssenimperialismus ist, was ihn zum Gegner seines gelehrten
und genial-phantastischen Landsmanns macht. Auf das Urteil über Nietzsche
hat diese natürliche Abneigung kaum wesentlichen Einfluß geübt, denn Seilliere
erkennt ganz richtig, daß Dr. Alexander Tille Nietzsche eine unverdiente Ehre
erweist, wenn er ihm das Verdienst zuschreibt, mächtig dazu beigetragen zu
haben, daß über den platten Glücksutilitarismus der deutschen und der englischen
Darwinianer die echte darwinische Moral, der selektionistische Militarismus
triumphiert habe. Diese These scheint Seilliere ans zwei Gründen verfehlt zu sein;
sie stelle ein moralisches Ideal ans, das kaum zu verwirklichen ist, und sie
mache Bestrebungen, denen Nietzsche nur auf Augenblicke gehuldigt habe, zum
Hauptinhalt seiner Tätigkeit.

Diese war, wie Seilliere es richtig darstellt, ein immerwährendes Sichaus¬
leben ohne bestimmtes Ziel und ohne feste Richtung, und man wird dem Ver¬
fasser zugeben müssen, daß der geniale Egoist auf seiner Jagd uach Selbst¬
befriedigung in einem weiten Rundlauf, den die tollsten Seitensprünge sehr ver¬
wickelt gestalteten, zum Anfangspunkte seiner abenteuerlichen Fahrt zurückgelangt
ist: von Dionysos bei Apollo vorbei wieder zu Dionysos.

Wir dürfen mit Seilliere die beiden nietzschischen Bezeichnungen für das
Triebleben und die Vernunft genehmigen. Der dorische Apoll ist in der Tat



Apollo oder Dionysos? Kritische Studie über Friedrich Nietzsche von Ernest
Seilliere, Autorisierte Übersetzung von Theodor Schmidt. Berlin, H. Barsdorf, 1906.


Apollo und Dionysos

ainer wieder dieser Nietzsche, wird der Leser unwillig ausrufen.
Aber wir werden den Unglücklichen noch nicht so bald loswerden,
weil sein Unglück eben darin bestanden hat, daß seine Seele von
allen Strömungen unsrer Zeit ergriffen, von allen ihren Wider¬
sprüchen zerrissen wurde, und daß er diesen Strömungen und
Widersprüchen den packendsten Ausdruck verliehen hat. Das Werk des Fran¬
zosen^) aber dürfen wir schon deswegen nicht mit Stillschweigen übergehn, weil
es die beste Medizin für die Nietzschenarren enthält: eine humoristische Dar¬
stellung des Veitstanzes, den der große intellektuelle Epileptiker in seinen
Schriften aufführt. Schon Gobineau ist von demselben Verfasser humoristisch¬
satirisch behandelt worden. Wir haben (im 37. Heft des Jahrgangs 1903)
gesehen, daß es die Abneigung des Franzosen und Demokraten gegen den angel¬
sächsisch-deutschen Nnssenimperialismus ist, was ihn zum Gegner seines gelehrten
und genial-phantastischen Landsmanns macht. Auf das Urteil über Nietzsche
hat diese natürliche Abneigung kaum wesentlichen Einfluß geübt, denn Seilliere
erkennt ganz richtig, daß Dr. Alexander Tille Nietzsche eine unverdiente Ehre
erweist, wenn er ihm das Verdienst zuschreibt, mächtig dazu beigetragen zu
haben, daß über den platten Glücksutilitarismus der deutschen und der englischen
Darwinianer die echte darwinische Moral, der selektionistische Militarismus
triumphiert habe. Diese These scheint Seilliere ans zwei Gründen verfehlt zu sein;
sie stelle ein moralisches Ideal ans, das kaum zu verwirklichen ist, und sie
mache Bestrebungen, denen Nietzsche nur auf Augenblicke gehuldigt habe, zum
Hauptinhalt seiner Tätigkeit.

Diese war, wie Seilliere es richtig darstellt, ein immerwährendes Sichaus¬
leben ohne bestimmtes Ziel und ohne feste Richtung, und man wird dem Ver¬
fasser zugeben müssen, daß der geniale Egoist auf seiner Jagd uach Selbst¬
befriedigung in einem weiten Rundlauf, den die tollsten Seitensprünge sehr ver¬
wickelt gestalteten, zum Anfangspunkte seiner abenteuerlichen Fahrt zurückgelangt
ist: von Dionysos bei Apollo vorbei wieder zu Dionysos.

Wir dürfen mit Seilliere die beiden nietzschischen Bezeichnungen für das
Triebleben und die Vernunft genehmigen. Der dorische Apoll ist in der Tat



Apollo oder Dionysos? Kritische Studie über Friedrich Nietzsche von Ernest
Seilliere, Autorisierte Übersetzung von Theodor Schmidt. Berlin, H. Barsdorf, 1906.
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[0034] [Abbildung] Apollo und Dionysos ainer wieder dieser Nietzsche, wird der Leser unwillig ausrufen. Aber wir werden den Unglücklichen noch nicht so bald loswerden, weil sein Unglück eben darin bestanden hat, daß seine Seele von allen Strömungen unsrer Zeit ergriffen, von allen ihren Wider¬ sprüchen zerrissen wurde, und daß er diesen Strömungen und Widersprüchen den packendsten Ausdruck verliehen hat. Das Werk des Fran¬ zosen^) aber dürfen wir schon deswegen nicht mit Stillschweigen übergehn, weil es die beste Medizin für die Nietzschenarren enthält: eine humoristische Dar¬ stellung des Veitstanzes, den der große intellektuelle Epileptiker in seinen Schriften aufführt. Schon Gobineau ist von demselben Verfasser humoristisch¬ satirisch behandelt worden. Wir haben (im 37. Heft des Jahrgangs 1903) gesehen, daß es die Abneigung des Franzosen und Demokraten gegen den angel¬ sächsisch-deutschen Nnssenimperialismus ist, was ihn zum Gegner seines gelehrten und genial-phantastischen Landsmanns macht. Auf das Urteil über Nietzsche hat diese natürliche Abneigung kaum wesentlichen Einfluß geübt, denn Seilliere erkennt ganz richtig, daß Dr. Alexander Tille Nietzsche eine unverdiente Ehre erweist, wenn er ihm das Verdienst zuschreibt, mächtig dazu beigetragen zu haben, daß über den platten Glücksutilitarismus der deutschen und der englischen Darwinianer die echte darwinische Moral, der selektionistische Militarismus triumphiert habe. Diese These scheint Seilliere ans zwei Gründen verfehlt zu sein; sie stelle ein moralisches Ideal ans, das kaum zu verwirklichen ist, und sie mache Bestrebungen, denen Nietzsche nur auf Augenblicke gehuldigt habe, zum Hauptinhalt seiner Tätigkeit. Diese war, wie Seilliere es richtig darstellt, ein immerwährendes Sichaus¬ leben ohne bestimmtes Ziel und ohne feste Richtung, und man wird dem Ver¬ fasser zugeben müssen, daß der geniale Egoist auf seiner Jagd uach Selbst¬ befriedigung in einem weiten Rundlauf, den die tollsten Seitensprünge sehr ver¬ wickelt gestalteten, zum Anfangspunkte seiner abenteuerlichen Fahrt zurückgelangt ist: von Dionysos bei Apollo vorbei wieder zu Dionysos. Wir dürfen mit Seilliere die beiden nietzschischen Bezeichnungen für das Triebleben und die Vernunft genehmigen. Der dorische Apoll ist in der Tat Apollo oder Dionysos? Kritische Studie über Friedrich Nietzsche von Ernest Seilliere, Autorisierte Übersetzung von Theodor Schmidt. Berlin, H. Barsdorf, 1906.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_300500/34>, abgerufen am 29.04.2024.